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Foto: AP Photo/Francois Mori

Diesmal macht es wirklich Angst", titelte das Pariser Linksblatt Libération am Montag mit Blick auf das politische Schreckgespenst Frankreichs. Gemeint war: Nachdem Marine Le Pen 2017 gegen Emmanuel Macron noch klar verloren habe, könne sie bei der neuen Stichwahl in zwei Wochen wirklich gewinnen. Auf den ersten Blick erscheint das unwahrscheinlich. Emmanuel Macron hat am Sonntag im ersten Wahlgang 27,6 Prozent Stimmen erhalten und die Nase arithmetisch vorn. Die Konservativen, Grünen, Sozialisten und Kommunisten, die zusammen auf 13,5 Prozent kamen, rufen zudem zu Macrons Wiederwahl auf. Macht 40 Prozent. Marine Le Pen liegt zurück: Sie erhielt 23 Prozent Stimmen, nur Éric Zemmour (7,2 Prozent) und Nicolas Dupont-Aignan (2,1) rufen zu ihrer Wahl auf: gut 33 Prozent.

Stand nach Runde 1

Eine wichtige Frage ist, wie sich die 7,5 Millionen Wählerinnen und Wähler von Jean-Luc Mélenchon (22,2 Prozent) verhalten werden. Der Linkspopulist erklärte am Sonntagabend zwar: "Keine Stimme darf zu Le Pen gehen." Doch die Basis seiner Partei, der "Unbeugsamen", ist kaum geneigt, dem amtierenden Staatschef zu einem zweiten Mandat zu verhelfen. "Es ist erlaubt, seine Wut über die Wahlstrategie von Emmanuel Macron zu äußern", kommentiert etwa das linke Newsportal Mediapart. Es wirft dem Präsidenten vor, das Duell mit Le Pen gesucht und geschürt zu haben.

Stimmempfehlungen ausgeschiedener Kandidaten sind in Frankreich verbreitet, aber wenig wirksam. Aussagekräftiger sind die soziologischen Analysen der Umfrageinstitute. Ihnen zufolge haben die Arbeiter am Sonntag überdurchschnittlich für Mélenchon und Le Pen gestimmt, weshalb eine Übertragung durchaus möglich scheint. Macron hat hingegen sein Potenzial bei höheren Angestellten bereits weitgehend ausgeschöpft.

Die nette Le Pen

Auch diese Wählerstromanalysen sind aber letztlich mit Vorsicht zu genießen. Sie sind außerstande, moralische oder menschliche Faktoren zu integrieren. Diesbezüglich hat sich in Frankreich aber viel verändert. Beim Präsidentschaftsduell von 2017 hatte die "republikanische Front" gegen die Rechtsextremen noch knapp funktioniert.

Doch Marine Le Pen hat seit ihrer ersten Präsidentschaftskandidatur 2012, als sie nur 17,9 Prozent der Stimmen erhielt, hart an sich gearbeitet. Sie vermeidet heute die Reizthemen Immigration und Islam und gibt sich rundum moderat. Nachdem sie beim TV-Streitgespräch von 2017 gegen Macron mit ihrer Aggressivität an die Mauer gefahren war, gibt sie sich nun aufgeschlossen, gut gelaunt und geläutert. Am liebsten spricht sie in Talkshows über ihre Hauskatzen oder das Versprechen, die Sozialhilfe für arme Bürger zu erhöhen.

Dass diese Zuschüsse finanziert werden sollen, indem sie Ausländern gekürzt oder vorenthalten werden, verschweigt Le Pen gerne. In ihrem Programm steht es trotzdem.

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Emmanuel Macron ist bei den Franzosen nicht sehr beliebt. Marine Le Pen hat ihr Image kräftig und erfolgreich poliert.
Foto: AP Photo/Thibault Camus, Ludovic Marin

Minutenlanges Lächeln

Den Gipfel der Verstellung erreichte die 53-jährige Populistin vergangene Woche, als sie, die für ihre Schimpftiraden bekannt ist, Macron vorwarf, er spreche "fieberhaft und aggressiv". Am Sonntagabend lächelte sie sich minutenlang durch ihren Wahlauftritt und sprach von ihrem "Glück". Die Darbietung wirkt. Im trauten Gespräch räumen Franzosen gerne ein, Le Pen sei "ja eigentlich ganz sympathisch". Ob es das geglättete Image der Kandidatin ist oder das "trumpisierte" Ambiente der sozialen Medien: Für den Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen zu sein ist heute fast normal. Der linkslastige Politologe Gérard Le Gall offenbarte dies unfreiwillig, als er am Montag meinte, die Wähler stünden nun vor einer "schwierigen Wahl" zwischen Macron und Le Pen. Mit so viel Mitgefühl hatten die Le-Pen-Wähler 2017 nicht rechnen können.

Der Wandel in der Wahrnehmung Le Pens ist subtil, aber er genügt, um auch den mentalen Sperrgürtel um ihre Partei zu sprengen. Im Volk ist der Damm des schlechten Gewissens längst gebrochen. Auch unpolitische Wähler sind anfällig für die rechten Schalmeien. Immer wieder hört man den Spruch: "Rechte, Linke, Grüne, Macron – wir haben alles versucht. Jetzt testen wir mal Marine." Sogar ihr Vater Jean-Marie, den Marine 2015 eigenhändig aus der von ihm gegründeten Partei geworfen hatte, war am Montag überzeugt: "Meine Tochter ist die künftige Präsidentin der Republik." (Stefan Brändle, 11.4.2022)