Jana Barinowa wurde als Kiews Kulturverantwortliche nach ihrer Flucht entlassen. Zu Unrecht, wie sie findet. Für die Emotionen ihrer Landsleute hat sie dennoch Verständnis.

Department of Culture Kiew

Es sind zwei Geräusche, die Jana Barinowa nicht mehr aus dem Kopf gehen: Der Fliegeralarm und das ununterbrochene Klingeln ihrer Telefone, als die Hölle in Kiew losbrach. Jetzt ist die 33-Jährige mit ihrer Tochter und Mutter in Wien in Sicherheit. Noch vor wenigen Wochen fühlte sie sich auch in ihrer Heimat Kiew keineswegs unbehaglich.

"Natürlich haben wir ständig die geopolitische Lage diskutiert", erzählt sie dem STANDARD, "aber mit einer solchen massiven Invasion hatten wir nicht gerechnet." Am Wochenende vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte Barinowa in der südlichen Schwarzmeerstadt Odessa ihre Familie besucht, den Geburtstag der Mutter gefeiert. Zurück in Kiew lief die Woche normal an, bis zu jenem Donnerstag, dem 24. Februar.

Alarm um fünf Uhr früh

"Ich bin mit meiner Tochter um fünf Uhr früh aufgewacht wegen des extrem lauten Alarms. So etwas habe ich zuvor nur in Horrorfilmen gehört, es ist ein ganz anderes Geräusch als ein Feueralarm, es füllt die ganze Stadt. Ich erinnere mich, dass ich zu meiner Tochter gesagt habe: ‚Jetzt beginnt es.‘ Meine Tochter war panisch. Auf meinem Handy waren bereits 50 Nachrichten eingelangt. Dann wurden wir alle zum Sitz der Stadtregierung gerufen."

Jana Barinowa war seit 2020 Kiews Kulturamtsleiterin. Von Bürgermeister Witali Klitschko persönlich zur Bewerbung ermuntert, musste sie wegen Covid ein zweimaliges Auswahlverfahren überstehen, ehe ihr die Verantwortung über mehr als 75 Kulturinstitutionen übertragen wurde. Die junge Frau hatte zuvor fünf Jahre lang die Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar in Kiew geleitet, jetzt sollte die Philosophin und Ökonomin, die unter anderem an der Pariser Sorbonne studierte, frischen Wind in die Kulturbürokratie bringen. Sie hatte etwa Antikorruptionsmaßnahmen forciert und sich damit nicht nur Freunde gemacht.

"Diesen extrem lauten Alarm habe ich zuvor nur in Horrorfilmen gehört. Es ist ein ganz anderes Geräusch als ein Feueralarm, es füllt die ganze Stadt."

Nun, da die Russen die Stadt bombardierten, sollte sie vor allem an der Evakuierung des kulturellen Erbes mitwirken. Museen, Kinos, Konzertsäle, alles musste geschlossen, gesichert und kontrolliert werden. Instruktionen der Regierung gab es dafür nur unzureichend. "Letztlich war jedes Museum selbst verantwortlich, per Gesetz. Ich konnte ihnen nichts vorschreiben. Wenn ein Direktor entscheidet, dass er zerbrechliche Keramiken nicht in den Keller bringt, dann ist es seine Entscheidung. Natürlich war das Land darauf nicht vorbereitet. Es konnte nicht alles in einem Tag passieren", sagt Barinowa.

In ihrer Wohnung im 24. Stock war sie vor den Bomben alles andere als sicher, Luftschutzbunker gab es keinen. Die Alleinerzieherin harrte mit der Tochter in Parkhäusern aus, wenn sie ins Büro ging, kam die 13-Jährige mit ihr. 75 Prozent der Angestellten des Kulturamts waren Frauen, viele sind aus verständlichen Gründen geflohen.

Fluchtrichtung Odessa

Schließlich verließ auch Barinowa die Stadt in Richtung Odessa. "Kolonnen von Autos des Diplomatischen Korps fuhren hinaus, und Panzer fuhren hinein, da dachte ich mir, es ist die richtige Entscheidung." Wie schon während der Pandemie stellten alle auf Distance-Working um, noch auf der Autobahn habe sie Zoom-Calls geführt und versucht, koordinierend zu wirken.

Von Odessa aus versuchte Barinowa, die Arbeit fortzusetzen. Aber auch hier war sie bald schon nicht mehr sicher, wohnte zu nah an einer ukrainischen Verteidigungsanlage, die zum Ziel der Angreifer wurde. Sie zog noch einmal um, in die Vorstadt zu Freunden. Als auch hier nur wenige Kilometer entfernt die Bomben einschlugen, beschloss sie, das Land zu verlassen. Mutter und Tochter kamen mit, für den Vater, einen Marineadmiral, war das ausgeschlossen.

Vizebürgermeister in Kenntnis gesetzt

Barinowa informierte den Vizebürgermeister von Kiew über ihre Ausreise. "Er sagte, es sei okay und wohl die richtige Entscheidung, wir würden in Kontakt bleiben." Ein Gesetz erlaubte es alleinerziehenden Müttern im Staatsdienst zudem explizit, vom Ausland aus weiterzuarbeiten. "Aber ich bekam keine Antwort von der Stadtregierung mehr, und schließlich musste ich über Facebook erfahren, dass ich gefeuert wurde."

Dem Bürgermeister, Witali Klitschko, der die Entfernung aus dem Amt formal unterschrieben hat, gibt Barinowa keine Schuld: "Ich respektiere ihn sehr, er hat viel zu tun, ich glaube, er wusste gar nicht genau, was er unterschreibt." Sie sei sich sicher, dass es nichts mit ihrer Arbeit während des Kriegs zu tun hatte. "Meine Kündigung haben Leute betrieben, die von Anfang an gegen mich waren – ich war eine Newcomerin im System." Eine Intrige? Tatsächlich gab es eine Petition gegen Barinowa, in der ihr Inkompetenz im Krisenmanagement vorgeworfen wird. Gegen ihre Entlassung will sie gerichtlich vorgehen, nach dem Krieg, Priorität habe das nicht.

Wien war für Barinowa das logische Ziel, wie sie sagt. Ihre Schwester, eine Psychotherapeutin, lebt hier mit ihrem Freund, der 2014 von der Krim flüchten musste. Gemeinsam bemühen sie sich nun, bei der Integration von Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen: "Ich kann von hier aus mehr tun. Was wäre meine Aufgabe, wenn ich ohne Internet im Luftschutzbunker sitzen würde?"

Krieg bereits 2014 begonnen

Wird es schwer für Rückkehrende, weil sie in der Ukraine teils als Verräter gelten? "Nein, die Kritik gibt es nur, weil ich im Staatsdienst war, andere Geflüchtete erwartet nicht solcher Gegenwind. Frauen und Kinder zu evakuieren ist schon eine unbestrittene eiserne Regel." Generell hat Barinowa viel Verständnis für emotionale Reaktionen in der Ukraine. Den im Westen hitzig diskutierten Boykott russischer Kulturschaffender müsse man differenziert betrachten, sagt sie: "Für viele Ukrainer hat der Krieg bereits 2014 begonnen, nicht erst jetzt. Ich glaube, man kommt nicht umhin, russische Kultur so lange zu boykottieren und sanktionieren, wie die Kriegshandlungen laufen."

Dass innerhalb der Ukraine viele aktuell einen pauschalen Boykott wollen, könne sie verstehen. "Wenn man Nachrichten liest über vergewaltigte Kinder und Frauen, Kriegsverbrechen wie in Butscha, wie kann man dann aktuell Puschkin lesen? Aus der Sicht der Ukrainer kann man derzeit nichts akzeptieren, das auch nur irgendwie mit dem Land des Aggressors zu tun hat. Da ist es wie bei Adorno: ‚Es gibt kein Gedicht nach Auschwitz.‘"

"Wenn man Nachrichten liest über vergewaltigte Kinder und Frauen, Kriegsverbrechen wie in Butscha, wie kann man dann aktuell Puschkin lesen?"

Für das Ziehen ebensolcher Parallelen bei seiner Rede vor dem israelischen Parlament wurde Präsident Selenskyj kritisiert. Barinowa, selbst Mitglied im jüdischen Weltkongress, sieht darin nichts Böses: "Selenskyj hatte sicherlich nicht im Sinn, irgendeinen Wettbewerb auszurufen, wer welches Leid ertragen musste und muss und welches schlimmer ist. Krieg ist Krieg, es ist immer eine humanitäre Katastrophe. Was in Butscha, Mariupol, Irpin bisher geschehen ist, hat definitiv Genozid-Charakter, ja, es ist ein Genozid. Und natürlich gibt es Parallelen, die man ziehen kann: Das Massaker in Butscha mit über 400 ermordeten Zivilistinnen und Zivilisten erinnert mich auch an Babyn Jar. Die Methoden sind dieselben."

In Babyn Jar – das Gedenkstättenareal wurde wie einige andere von russischen Raketen als Kollateralschaden getroffen – erschoss die deutsche Wehrmacht 1941 über 33.000 Jüdinnen und Juden. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur werde nach dem Krieg in der Ukraine noch wichtiger werden, glaubt Barinowa. Kiew werde sich verändern, "nicht nur positiv. Es wird militarisierter, nationalistischer werden", die Entrussifizierung werde bis zu Straßenumbenennungen gehen.

Spaltung bis in die eigene Familie

Barinowa befürchtet, dass Teile des Landes weiter besetzt bleiben werden. Das Verhältnis zu Russland sei bis in die engsten Familienstrukturen hinein ein gestörtes: Barinowas eigene Tante und Cousins, die in Russland leben, hätten ihr seit Beginn des Krieges keine einzige Nachricht geschickt.

Bei den schönen Dingen werde Kiew aber "nicht bei null beginnen. Es wurde zunehmend offener, kreativer, internationaler, demokratischer. Oft wurde es als das neue Berlin bezeichnet, aber es ist nicht Berlin, es ist Kiew. Ich liebe diese Stadt." Die Zivilgesellschaft sei stark und die Menschen bereit für einen EU-Beitritt. Barinowa müsse sich jetzt vor allem um ihre Tochter kümmern, aber wenn es um den Wiederaufbau geht, werde sie bereit sein, zurückzukehren. "Ich glaube an unser Land und seine Zukunft in Europa." (Stefan Weiss, 12.4.2022)