Kanzler Nehammer nach seiner Unterhaltung mit Wladimir Putin.

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Wer von Wien nach Moskau will, muss Umwege auf sich nehmen. Bundeskanzler Karl Nehammer war Sonntagabend erst in die Türkei gereist, um dann am Montag Moskau aufzusuchen. Mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan habe Nehammer sich auch im Vorfeld des Russland-Trips beraten, ebenso mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, hieß es zuvor. Für 14 Uhr MESZ war der Termin des Kanzlers angesetzt – mit Wladimir Putin.

Er dauerte etwas mehr als eine Stunde. Die Unterhaltung, so ließ Nehammer danach mitteilen, sei "sehr direkt, offen und hart" verlaufen, es sei "definitiv kein Freundschaftsbesuch" gewesen. Er habe Putin gesagt, dass der Krieg aufhören müsse, und habe die Kriegsverbrechen in der Kiewer Vorstadt Butscha – die er selbst erst am Samstag besucht hatte – und in anderen Teilen der Ukraine angesprochen.

Alle dafür Verantwortlichen, das habe er betont, müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem habe er Putin mitgeteilt, dass die Sanktionen der EU verschärft würden, solange es neue Tote gebe. Generell, sagte Nehammer später vor der Presse, habe er "keinen optimistischen Eindruck" gewonnen, Putin sei in "Kriegslogik" gefangen. Eine Großoffensive im Osten der Ukraine, dem Donbass, bereite Russland schon "intensiv" vor.

Gespräche im Irrsinn des Krieges

Dass dies so sei, ergebe sich auch aus der "Fokussierung auf den geostrategischen Raum". Will heißen: Bei den ukrainischen Kämpfern gebe es durch den bisherigen Kriegsverlauf ein "neues Selbstbewusstsein", für die russische Armee sei ebenfalls der Donbass von zentraler militärischer Bedeutung.

Dennoch, und damit kam der Kanzler wieder zum Grund seines Besuchs zurück: Es sei wichtig, "dass im Irrsinn der Gewalt Gespräche stattfinden können". Diesem Ziel habe er dienen wollen, und um es zu erreichen, habe er sich im Vorfeld auch mit verschiedenen Partnern abgesprochen: der deutschen Regierung, der EU und auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Wenn dieser etwas gegen das Gespräch gehabt hätte, so Nehammer, "dann hätte es nicht stattgefunden".

Konkrete Ergebnisse, außer, dass man eben im Gespräch geblieben ist, hatte das Treffen aber offenbar nicht. Im Kreml verzichtete man zunächst auf Erläuterungen zum Gespräch. "Das Treffen sei nach Maßstäben der letzten Zeit nicht sonderlich lang gewesen", kommentierte Putin-Sprecher Dmitri Peskow laut der russischen Nachrichtenagentur Tass. Zu Inhalten könne er einstweilen nichts sagen, erklärte er.

Der Kritik an seiner Reise hatte Nehammer schon im Vorfeld entgegenwirken wollen, als er selbst von einer "Risikomission" gesprochen hatte. Als Kanzler eines neutralen Landes in der EU wolle er nichts unversucht lassen, sagte er am Sonntagabend. Er sehe das als seine "Menschenpflicht". Nehammers Ziel: "Brückenbauer" zu sein, als Verbinder aufzutreten.

Stillschweigen über Absprachen

Die Kritik konnte das nicht verhindern: Aus der EU zitierte die Bild-Zeitung schon am Sonntagabend Quellen, die von einer PR-Aktion Nehammers sprachen. Der Vizebürgermeister der von russischen Truppen zerstörten Hafenstadt Mariupol, Sergej Orlow, sagte, so eine Reise gehöre nicht "zur heutigen Zeit".

Russland-Experte Gerhard Mangott befand, er "halte den Besuch für keine kluge Entscheidung". In Europa habe niemand auf einen "Brückenbauer" aus Österreich gewartet. Der russische Oppositionelle und Schach-Großmeister Garri Kasparow sprach auf Twitter von einem Witz und einer "weiteren österreichischen Rettungsleine" für Russland.

Und auch beim Treffen der EU-Außenministerinnen und -Außenminister war die Einschätzung gemischt: Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell wollte nur "abwarten", Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock blieb zurückhaltend. Positiver beurteilte offenbar eine Sprecherin der deutschen Regierung die Reise. Man sei vorab informiert gewesen, sagte die stellvertretende deutsche Regierungssprecherin Christiane Hoffmann, und man begrüße die Initiative.

Von den Partnern des sozialdemokratischen Regierungschefs in seiner Ampelkoalition, den Grünen und der FDP, gab es sogar vereinzelte Rufe, Scholz möge es Nehammer gleichtun. Das ist aber, sagte Hoffmann, nicht geplant – ebenso wenig wie eine Zusammenkunft des Bundeskanzlers mit Selenskyj.

Diplomatieversuche eingeschlafen

In Brüssel hieß es Montag zu Nehammers Treffen mit Putin etwas knapper: "Wir wurden darüber informiert." Martin Selmayr, der EU-Kommissionsvertreter in Wien, sagte später vor Journalisten, man sei "sicher, dass der österreichische Kanzler die Vor- und Nachteile dieser Reise gut abgewogen hat".

Nehammer war der erste EU-Regierungschef, der seit Beginn des Kriegs Moskau besucht. Vor ihm waren aber schon mehrere Vermittlungsmissionen in Moskau aktiv. Zu Buche steht eine vielpublizierte – aber offenbar völlig folgenlose – Reise des deutschen Ex-Kanzlers Gerhard Schröder. Und jene des israelischen Premiers Naftali Bennett. Dessen Reise hatte allerdings einen klaren Zweck, der mit westlichen Partnern ebenso abgesprochen war wie mit Kiew: Bennett sollte die Vorschläge der ukrainischen Verhandler in den Friedensgesprächen vorbringen und Putins Reaktionen festhalten.

Diese teilte er später dem deutschen Kanzler Scholz bei einem Besuch mit. In den folgenden Tagen gab es mehrfach weitere Telefonate Bennetts mit Putin, später rief er auch immer wieder in Kiew an. Ob die Diplomatieversuche ihre Zwecke damals erfüllt haben, ist aber immer noch offen: Denn die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Moskau liefen ja schon vorher – und laufen seither auch weiter.

Zuletzt scheinen sie allerdings eher eingeschlafen zu sein: Die Ukraine gibt sich vor allem seit Bekanntwerden des Massakers von Butscha sehr zurückhaltend. Ihr Verhandler Mychajlo Podoljak sagte jüngst, nach der Offensive der Russen im Donbass würden die Gespräche wieder mehr Sinn haben, dann wisse man genauer, worüber man rede – jene Geisteshaltung, die wohl auch zu Nehammers Pessimismus in Sachen Gespräche beiträgt.

Gespräche "nie ein Vergnügen"

Dass nicht alle Bemühungen zu einem Ergebnis führen, zeigte das Engagement der Türkei. Ein Treffen zwischen den Außenministern der Ukraine und Russlands, Dmytro Kuleba und Sergej Lawrow, in Antalya blieb jüngst ohne Ergebnis. Überhaupt ist offen, wie weit Putin derzeit mit sich reden lässt. Die oft stundenlangen Telefonate zwischen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Putin bieten offenbar kaum Greifbares. Macron selbst sagte jüngst, seine Rolle sei undankbar: "Jede Diskussion ist von Zynismus geprägt, es ist nie ein Vergnügen." So deutlich wurde Nehammer nicht. Immerhin, als er Putin am Ende noch einmal auf den Krieg angesprochen habe, sei dessen Antwort gewesen: "Es wäre besser, wenn er bald endet." (Birgit Baumann, Manuel Escher, Thomas Mayer, Katharina Mittelstaedt, 11.4.2022)