Der Film "Jules und Jim" (1962) mit Jeanne Moreau, Oskar Werner und Henri Serre.

Foto: Filmarchiv Austria

Anlass der Retrospektive ist nicht der 90. Geburtstag des bereits verstorbenen Regisseurs, sondern die Zusammenarbeit mit Oskar Werner, dem das Filmarchiv eine einjährige Ausstellung widmet. Oskar Werner spielte in zwei der bedeutendsten Filme des Nouvelle-Vague-Regisseurs Truffaut mit: im unvergleichlichen Jules und Jim (1962), wo Werner mit Jeanne Moreau und Henri Serre in die prägendste Menage-à-trois verwickelt ist, die das Kino aufzubieten hat (vielfach kopiert); und in Fahrenheit 451 (1966), einem in England gedrehten Science-Fiction-Film in Technicolor, in dem Werner auf die großartige Julie Christie und Truffauts Passion für Hitchcock auf die für die Literatur trifft.

Beides sind denn auch Literaturverfilmungen. Truffaut liebte Bücher ebenso wie das Schreiben und das Erzählen – seine Filmfiguren lesen und schreiben fast ununterbrochen, oft gibt es eine Erzählstimme – und es machte ihm nichts aus, wenn seine Stoffe aus dem Kanon fielen.

"Tradition de qualité"

Im Gegenteil: Die sogenannte "tradition de qualité" des franzö sischen Kinos der 1950er-Jahre, bei der sich heute wenig bekannte Regisseure auf seriöse Literatur adaptionen fokussierten, verriss er 1954 in einem Essay für die neu gegründete Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma und gab damit Anstoß für die Nouvelle Vague, die in der Folge seines Erstlingserfolgs Sie küssten und sie schlugen ihn auf dem Filmfestival in Cannes 1958 die ganze Welt überrollte.

In seinem Erstling schildert Truffaut eindringlich die eigenen dysfunktionalen Familienverhältnisse, und der raue Ton sowie das bockige Schwarz-Weiß sind "realistischer" als alles, was folgen sollte. Hier tritt auch sein Alter Ego Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud) erstmals auf, woraus eine der ungewöhnlichsten Langzeitserien des Kinos entstand, die im Laufe von zwanzig Jahren Antoines Leben als ständig Verliebter (Antoine und Colette, 1962 & Geraubte Küsse, 1968), als Jungverheirateter (Tisch und Bett, 1970) und als wieder Vogelfreier (Liebe auf der Flucht, 1979) porträtiert.

Wertschätzender Blick

Schöne Frauen machen nicht nur Antoine Doinel rastlos, sie bevölkern Truffauts Filme: So sind Affären (Die Frau nebenan, 1981 mit seiner letzten Ehefrau Fanny Ardant, und Die süße Haut mit Catherine Deneuves früh verstorbener Schwester Françoise Dorléac), Dreierkonstellationen (oft vergessen: Zwei Mädchen aus Wales und der Kontinent, 1971) oder vom bewunderten Großmeister Hitchcock inspirierter Voyeurismus (Der Mann, der die Frauen liebte, 1977) allgegenwärtig. Wem das Schwärmen zu viel wird, dem sei als Kontrastprogramm die Ausstellung Widerständige Musen in der Kunsthalle Wien ans Herz gelegt, die eine feministische Perspektive auf das Filmschaffen dieser Zeit einnimmt – wobei Truffaut nie im Zentrum feministischer Kritik stand, dafür war sein Blick zu wertschätzend.

Ein anderes Herzensthema des Parisers ist die Grausamkeit von Erziehungsmaßnahmen. Lieber schlecht erzogen und glücklich als gut erzogen und unglücklich, lautete sein Credo. Und wenn Antoine Doinel gegen seinen Lehrer aufbegehrt und seine Mutter totsagt, da ist Bernadette Lafont – die erste seiner vielen Musen, die in dem Kurzfilm Die Unverschämten 1958 zu sehen ist – bereits ohne Reue dazu fähig, ihren prügelnden Vater ins Leere stürzen zu lassen (Ein schönes Mädchen wie ich, 1972). In Der Wolfsjunge (1970) schlüpft Truffaut schließlich selbst in der Rolle eines mit der bürgerlichen – so oft ins Militaristische kippenden – Kindeserziehung hadernden Erziehers. Ein Überraschungserfolg, der ins Herz des antiautoritären Zeitgeists der 1970er traf.

Sensibilität und Freiheit

Das war denn auch sein einziger systemkritischer Impuls – eine Tatsache, die Truffaut beim Publikum beliebt machte, ihm aber auch Kritik einbrachte. Statt auf Politik setzt sein Kino auf Sensibilität und Freiheit: Immer geht es ums Ausbrechen, und Bindungen sind niemals stabil – zu groß sind die Reize der Außenwelt, zu verlockend ist die Welt der Erzählungen. In Zeiten der Militarisierung lädt der Antimilitarist Truffaut mit seinen 21 Spielfilmen und vier Kurzfilmen daher ein, die Welt einen Moment lang zu vergessen. Denn "Filme", so Truffaut, "sind zärtlicher als das Leben". (Valerie Dirk, 13.4.2022)