"Butscha ist eine Landschaft des Horrors", schreibt die Journalistin Carlotta Gall in der "New York Times".

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In einem bemerkenswerten, aber vor allem haarsträubenden Bericht schildern die langjährige "New York Times"-Journalistin Carlotta Gall und der Fotojournalist Daniel Berehulak das Grauen unter russischer Besatzung im Kiewer Vorort Butscha.

Zur Erinnerung: Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar kam es im Rahmen des Vorstoßes auf die Hauptstadt im Umland zu schweren Kämpfen. Die Kleinstadt Butscha wurde am 12. März von russischen Streitkräften eingenommen und blieb zwei Wochen in russischer Hand, bis Bürgermeister Anatoliy Fedoruk am 31. März 2022 die Rückeroberung verkündete. Die ukrainische Staatsspitze veröffentlichte daraufhin Bilder, die niemand so schnell vergessen wird: Straßen voller Leichen, offene Massengräber.

Butscha liegt etwa zwölf Kilometer vom Stadtrand der Hauptstadt Kiew entfernt.

Gall und Berehulak reisten Anfang April in die Kleinstadt, um die Berichte zu überprüfen. Auch sie fanden überall Leichen. Konkret fanden sie 30 leblose Menschen so vor, wie und wo sie getötet worden waren: auf dem Gehweg, in Gärten, auf dem Parkplatz und im Wald. Außerdem dokumentierten sie rund 100 Leichensäcke. "Butscha ist eine Landschaft des Horrors", schreibt Gall in dem Bericht, den Sie hier abrufen können. An dieser Stelle ein Wort der Warnung: Die Inhalte des Artikels so wie hier wiedergegebene Passagen und die Fotos zeigen und beschreiben grauenvolle Szenen der Gewalt.

Zeichen sadistischer Gewalt

Das Journalistenduo hat im Auftrag der "New York Times" etliche Augenzeugen, Beamte der Stadt und Leichenbeschauer interviewt: Demnach hätten schon in den ersten Tagen nach der Invasion russische Spezialkräfte auf dem Fußweg die Stadt erreicht und wahllos auf Zivilisten und Autos gefeuert. Doch als die Offensive auf Kiew ins Stocken geriet, wurde es noch viel schlimmer und "sadistischer": Eine Frau wurde am helllichten Tag des 5. März erschossen, als sie ihre Eingangstür öffnete. Dort fanden die Journalisten ihre Leiche auch einen Monat nach der Tat. Noch bevor die russischen Streitkräfte die Stadt besetzt hatten, seien insgesamt die Leichen von elf Zivilisten auf einer der Wohnstraßen gelegen. Getötet bei dem Versuch, Brot zu holen oder sich kurz die Füße zu vertreten.

Die russischen Streitkräfte haben laut dem Bericht ihr Lager in einer Schule errichtet und in der Nähe Scharfschützen stationiert. Dann fingen sie an, ein Haus nach dem anderen zu durchsuchen. Dabei warnten sie: "Geht nicht hinaus, wir haben einen Schießbefehl." Einige Häuser seien auch besetzt worden, in zumindest einem sei auch eine tote Frau gefunden worden, die die russischen Soldaten, offenbar Söldner, als "Sexsklavin" gehalten hätten, bevor sie sie hinrichteten.

Man hätte auch sechs verhungerte Bewohner eines Seniorenheims gefunden. Als russische Einheiten begannen, sich angesichts der ukrainischen Gegenoffensive auf den Rückzug vorzubereiten, seien etliche Racheakte durchgeführt worden: Mindestens 15 Menschen wurden an verschiedenen Orten mit gefesselten Händen tot aufgefunden, was darauf hindeute, dass mehr als eine russische Einheit Menschen festgenommen und hingerichtet hat, schreibt die "New York Times". Insgesamt seien am ersten Wochenende nach dem Rückzug rund 360 Leichen von den Behörden gefunden und dokumentiert worden – darunter zehn Kinder. 250 seien durch Projektile getötet worden, die anderen an Hunger, Kälte und fehlender medizinischer Versorgung gestorben. Am Dienstag ist die Zahl der aufgefundenen Toten auf 403 Leichen gestiegen.

Fedorok, das Oberhaupt der Kleinstadt mit ehemals rund 36.000 Einwohnern, erwartet noch weitere Leichenfunde. Mindestens 16 Menschen würden noch vermisst. Der Generalstaatsanwaltschaft zufolge haben französische Experten von Gendarmerie und des medizinischen Dienstes der französischen Armee ihre Arbeit in Butscha aufgenommen. Mit einem mobilen Labor zur DNA-Analyse sollen die Experten 15 Tage in dem Ort bleiben."Die gesammelten Beweise werden in den nationalen Ermittlungen genutzt und ebenfalls an den Internationalen Strafgerichtshof übergeben", so Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Russland weist die Vorwürfe zu den Kriegsverbrechen kategorisch zurück, legt jedoch keine Belege zur eigenen Entlastung vor. (Flora Mory, 12.4.2022)