Nach dem Abzug russischer Truppen aus der Region Kiew sind in den ehemals besetzten und umkämpften ukrainischen Gebieten inzwischen hunderte Leichen von Bewohnerinnen und Bewohnern gefunden worden.

Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Völkermord gilt im Fachjargon "als das Verbrechen aller Verbrechen". Soll heißen: Es gibt nichts Schlimmeres als die vorsätzliche Ausrottung eines Volkes. Der russische Präsident Wladimir Putin bedient sich des Begriffs, um seinen Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen. Dabei begehe Russland selbst Genozid am ukrainischen Volk, sagt Kiew, in dessen Umland nach Russlands Abzug bis Mittwoch bereits 720 Zivilisten tot aufgefunden wurden. Nun sieht auch US-Präsident Joe Biden den schweren Vorwurf als berechtigt, wie er in der Nacht auf Mittwoch in einer Rede sagte: "Ob US-Bürger tanken können, darf nicht davon abhängen, ob ein Diktator die halbe Welt entfernt Krieg erklärt und Genozid begeht."

Biden, der jüngst in einem Anflug von Spontaneität entgegen der US-Linie sagte, Putin könne nicht an der Macht bleiben, erklärte nachträglich: "Es wird immer deutlicher, dass Putin versucht, die Idee, überhaupt Ukrainer zu sein, einfach auszuradieren." Letztlich müssten aber Juristen entscheiden, ob es sich um Genozid handle. Kiew begrüßte umgehend die Formulierung. Der Kreml kritisierte Biden.

Verstoß gegen Kriegsregeln

Vorsichtiger, aber präziser drückte sich die in Wien ansässige Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aus, die "Anzeichen für Völkerrechtsbrüche" sieht: "Hätte Russland seine Verpflichtungen in Bezug auf Zielwahl, Proportionalität und Vorwarnungen beim Angriff sowie bei besonders geschützten Objekten wie Spitälern eingehalten, hätte es deutlich weniger getötete und verletzte Zivilisten gegeben", so ein Bericht, der auch ukrainische Verstöße, etwa im Umgang mit Kriegsgefangenen, sieht.

Im Rahmen von Ermittlungen hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Kharim Khan, Butscha besucht. Vor Reportern in dem Kiewer Vorort bezeichnete Khan die gesamte Ukraine am Mittwoch als "Tatort": "Wir sind hier, weil wir Grund zur Annahme haben, dass Verbrechen begangen werden, die in den Zuständigkeitsbereich des Gerichts fallen", sagte er.

USA liefern 800 Millionen US-Dollar an Militärhilfe

Derweil geht die Gewalt im Osten des Landes weiter: Das zerbombte Mariupol steht samt tausenden dort verbliebenen Zivilisten laut Experten vor dem Fall. EU-Sicherheitsexperten halten es für unwahrscheinlich, dass es der ukrainischen Armee gelingen könnte, den russischen Belagerungsring um die eingeschlossene Stadt zu durchbrechen. Die Appelle des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj werden immer verzweifelter: Zur Verteidigung belagerter Städte bräuchte sein Land schwere Waffen.

Bild nicht mehr verfügbar.

US-Präsident Biden sagte viel schweres Gerät für die Ukraine zu.
Foto: REUTERS/Al Drago

In einem emotionalen Videoappell trug er am Mittwoch fast eine Art Wunschliste vor. Ein Telefonat mit Joe Biden und nur wenige Stunden später erfüllte letzterer ihm zumindest mal einen ordentlichen Patzen davon. 800 Millionen US-Dollar Militärhilfe sagte das Weiße Haus zu. Man will Kiew unter anderem Artilleriesysteme und -munition sowie Panzerfahrzeuge liefern, aber auch Radarsysteme, Kampfdrohnen und Panzerabwehrlenkwaffen. Zudem seien weitere Sanktionen in Arbeit und Wirtschaftshilfe dürfe sich die Ukraine auch erwarten, hieß es nach dem Gespräch.

Ukrainische Verteidigung in Mariupol wankt offenbar

In der Hafenstadt Mariupol mit einst 400.000 Einwohnern warteten indes nach offiziellen Angaben immer noch 100.000 Menschen auf eine Evakuierung. Trotzdem kamen keine Fluchtkorridore zustande.

Die verbliebenen Verteidiger hätten sich in einer Stahlfabrik verschanzt. Laut Moskau ergaben sich in der Hafenstadt jüngst 1.026 ukrainische Soldaten. Zu den Gefangenen zählen demnach 162 Offiziere und auch 47 Frauen. Eine Bestätigung von ukrainischer Seite gab es nicht. Kiew hofft indes, den verhafteten Putin-Freund Wiktor Medwedtschuk gegen ukrainische Kriegsgefangene austauschen zu können. (Flora Mory, faso, 14.4.2022)