Die mittlerweile fast völlig zerstörte Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer dürfte für die Ukraine nicht mehr lange zu halten sein.

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Nach dem russischen Rückzug aus dem Raum Kiew steht im Osten und im Süden der Ukraine eine massive Offensive unmittelbar bevor. DER STANDARD hat Fachleute gefragt, welche Szenarien nun wahrscheinlich sind – und welche nicht.

Szenario 1: Die russische Armee nimmt die Ostukraine bis 9. Mai ein

Traditionell feiert Russland am 9. Mai seinen opferreichen Sieg gegen Nazideutschland mit großen Paraden in Moskau – ein prestigeträchtiger Termin für die Herren im Kreml. Schon zu Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine galt er auch als möglicher Stichtag, an dem Wladimir Putin vor den Augen der Welt seinen Triumph über die "Nazis" in der Ukraine feiern will. Die propagandistischen Hauptziele der russischen "Spezialoperation", die "Befreiung" des Donbass und die "Entnazifizierung" der Ukraine, vor allem der Sieg über das rechtsextreme Asow-Regiment in Mariupol, wären dann erreicht.

Militärisch erscheint dies durchaus machbar: "Anders als zu Beginn hat Moskau nun ein klar abgestecktes strategisches Ziel. Man will einen Streifen von Charkiw im Norden über die beiden Oblaste Luhansk und Donezk im Osten und Mariupol bis zur Krim und Cherson im Süden erobern", erklärt Oberst Berthold Sandtner vom Institut für Höhere Militärische Führung der Landesverteidigungsakademie in Wien. "Zudem sind die ukrainischen Verteidiger im Donbass nach acht Wochen Krieg abgenutzt, und der Nachschub wird immer schwieriger."

Gelingt es der russischen Armee, ihre Zange von Isjum im Norden und von Mariupol im Süden zu schließen und die bis zu 50.000 ukrainischen Verteidiger einzukesseln, hätte Putin sein Ziel erreicht – jedenfalls vorerst. Dass der Krieg dann zu Ende ist und die Ukraine die Waffen streckt, ist aber alles andere als wahrscheinlich.

Diese aktuelle Aufnahme entstand im Zuge einer von russischen Streitkräften organisierten Besichtigung Mariupols.
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Szenario 2: Die Ukrainer leisten auch im Osten starken Widerstand

Die Appelle des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj werden immer verzweifelter: Was sein Land brauche, um Städte wie das belagerte Mariupol zu verteidigen, seien schwere Waffen, Kampfjets etwa oder Artillerie. Und das nicht morgen, sondern heute.

Auch wenn davon bisher nichts oder so gut wie nichts geliefert wurde, hält Gustav Gressel, Sicherheitsexperte am European Council on Foreign Relations in Berlin, eine erfolgreiche Verteidigung durchaus für denkbar – wenn auch für höchst schwierig: "Die Ukrainer konnten ebenso wie die Russen Kräfte aus Kiew umgruppieren. Vor allem im Nordosten der Luhansker Oblast ist die Kontrolle der Russen recht dünn, dort könnten die Ukrainer einsickern." Vorerst müssen diese ihre Kräfte aber voll auf die Verteidigung konzentrieren, an eine Rückeroberung besetzten Geländes ist Gressel zufolge erst ab Ende Mai zu denken. Vor allem der Süden der Ukraine sei für Kiew aber vorerst so gut wie verloren.

Angesichts der russischen Neustrukturierung nach dem Debakel von Kiew sieht Bundesheer-Analyst Sandtner hingegen wenig Chancen für die Ukrainer, den Vormarsch im Osten zu stoppen. "Die Russen haben aus ihren Fehlern gelernt. Unter dem neuen Befehlshaber Alexander Dwornikow wirken die Land- und Luftstreitkräfte deutlich besser zusammen."

Um Putin den erhofften Erfolg zu bescheren, wird Dwornikow, der als "Schlächter von Syrien" gilt, aber notfalls die Brechstange hervorziehen, koste es, was es wolle.

Auch diese Aufnahme entstand im Zuge ebendieser russischen Führung durch Mariupol und zeigt das Theater, in dem 300 schutzsuchende Zivilisten bei einem russischen Angriff starben.
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Szenario 3: Der Krieg eskaliert weiter und erreicht die Westukraine

Am Dienstag ließen – vorerst unbestätigte – Berichte aus dem schwer verwüsteten Mariupol die westliche Welt erschaudern: Russische oder mit Russland verbündete Einheiten sollen erst- mals chemische Kampfstoffe per Drohne über der Stadt zum Einsatz gebracht haben. Stimmt das, wäre einem Statement des britischen Verteidigungsministeriums zufolge die "rote Linie" überschritten und "alle Optionen" auf dem Tisch – was immer dies angesichts der russischen Nukleardrohungen bedeuten mag.

Bundesheer-Analyst Sandtner hält die Gefahr der Eskalation mittels chemischer oder anderer geächteter Massenvernichtungswaffen vorerst aber für eher gering: "Es gibt noch einige Waffen im Arsenal der Russen, thermobarische Bomben etwa, bevor man wirklich zu Chemiewaffen greift."

Das sieht Alexander Graef, Russland-Experte am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, ähnlich: "Wenn solche Waffen zum Einsatz kämen, könnte es höchstens um das Erzeugen von Schock in der Zivilbevölkerung gehen. Aus militärischer Sicht dürfte der Einsatz chemischer Waffen in diesem Konflikt zum Erreichen der operativen Ziele Russlands aber wenig effektiv sein."

Dass der Westen der Ukraine – jedenfalls kurzfristig – in den Fokus Moskaus gerät, glaubt Berthold Sandtner nicht. Russlands Militärapparat konzentriere sich jetzt voll auf den Osten und den Süden des Landes. "Eine Ausdehnung in den Westen ist aus kapazitären Gründen schwer vorstellbar." (Florian Niederndorfer, 14.4.2022)