Der US-Historiker Stephen Kotkin.

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Vor dem Angriff auf die Ukraine hat der Kreml wohl nicht nur den Widerstand der dortigen Armee unterschätzt, sondern auch jenen in der Bevölkerung. Stephen Kotkin sieht den Feldzug aber auch als Beispiel einer "geopolitischen Falle", die sich Moskauer Machthaber immer wieder selbst stellen.

STANDARD: Als wie realistisch schätzen Sie die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ein, die mittlerweile schon ins Stocken geraten sind?

Kotkin: Russland hatte keine Möglichkeit, seine Ziele zu erreichen, bevor die umfassende Invasion in die Ukraine überhaupt begonnen hatte. Selbst wenn die russische Armee auf dem Schlachtfeld gewinnen sollte, könnte Präsident Putin der Ukraine keine Bedingungen aufzwingen. Um seinen Willen durchzusetzen, müsste Putin die gesamte Ukraine besetzen und eine Marionettenregierung einsetzen, die auch an der Macht bleibt. Aber Putin verfügt nicht über genügend Streitkräfte oder Zivilbeamte, um ein so großes Land wie die Ukraine zu besetzen. Besonders wenn die ukrainische Bevölkerung nicht einmal bereit ist, eine russische Besatzung und einen Marionettenherrscher zu akzeptieren. Er schafft es ja nicht einmal, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, wo es die weitaus kleinere, waffentechnisch unterlegene ukrainische Armee zustande gebracht hat, die zahlreicheren, besser bewaffneten russischen Streitkräfte aufzuhalten.

Präsident Putin scheint sich auf den Versuch zu beschränken, die Gebiete zu halten, die er schon vor Ausbruch des Krieges besetzt hatte – Donezk und Luhansk sowie die Krim. Eventuell schafft er es, die Grenzen dieser Gebiete auszuweiten und den Osten und den Süden miteinander zu verbinden. Vielleicht kann er diese Gebiete halten. Aber er wird nicht erreichen, dass sie dauerhaft als russisches Hoheitsgebiet anerkannt werden. Weder von einer Regierung in Kiew noch von einer Mehrheit der anderen Staaten der Welt.

STANDARD: Sehen Sie als Russland-Kenner irgendwelche historischen Parallelen zur gegenwärtigen Situation in der Ukraine?

Kotkin: Sogar die Landstreitkräfte der Nazis, die weitaus größer waren als das heutige russische Militär, und die gesamte Ukraine besetzt hatten, kontrollierten das Land nie vollständig. Nachzügler der sowjetischen Roten Armee sowie freiwillige zivile Partisanen verübten in der gesamten Ukraine Sabotageakte und Attentate. Als die Nazis 1941 Kiew einnahmen, beschlagnahmten sie sofort alle Luxushotels, um sie als Büros und Wohnräume zu nutzen. Es handelte sich um prächtige Bauten – von denen einige heute noch existieren. Doch wenige Tage nachdem die Nazis begannen, in den Kiewer Hotels zu schwelgen, gingen diese in die Luft: Sie waren von den sich zurückziehenden sowjetischen Truppen und lokalen Beamten mit Sprengfallen versehen worden. Das war einer der Gründe, warum Hitler befahl, Leningrad eben nicht zu besetzen, sondern es zu umzingeln und durch Aushungern zu unterwerfen.

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein russischer Beamter, der eine ukrainische Stadt besetzt. Sie bestellen Tee, zubereitet von ukrainischem Küchenpersonal, das dazu gezwungen wird, den neuen russischen Herren zu dienen. Würden Sie diesen Tee trinken? Würden Sie die Zündung Ihres Autos betätigen, nachdem es von ukrainischen Mechanikern in der Werkstatt gewartet worden war?

Im Grunde genommen hatte Russland den Krieg bereits verloren, bevor es ihn am 24. Februar begann. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn die russischen Streitkräfte noch mehr ukrainische Städte und Infrastruktur zerstören sollten, noch mehr ukrainische Zivilisten und Soldaten töten, noch mehr ukrainische Frauen vergewaltigen und noch mehr ukrainische Kinder entführen, in Szenarien, die an Grosny und Aleppo erinnern. In den letztgenannten Fällen hat Russland einheimische Machthaber wiederverwertet oder eingesetzt. Diese waren bereit, zumindest bis zu einem bestimmten Grad, Moskaus Willen durchzusetzen, um im Gegenzug vor Ort freie Hand zu haben: al-Assad in Syrien, Kadyrow in Tschetschenien. Von Viktor Janukowitsch, der rechtmäßig zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, bis er wegen Korruption, Betrugs und Gewalt in einem Aufstand gestürzt wurde, hat man nichts mehr gehört, seit er im Februar 2014 aus Kiew nach Russland floh. Er ist wahrscheinlich ein psychisch gebrochener Mann, selbst wenn er bereit wäre, Russlands Willen zu erfüllen. In der Ukraine ist niemand aufgetaucht, um den Interessen Russlands zu dienen, und jeder, der es versuchte, würde es nicht überleben.

Der russische Präsident Wladimir Putin und der damalige Ministerpräsident Dmitri Medwedew in einem orthodoxen Kloster in Istra.
Foto: APA/AFP/SPUTNIK/YEKATERINA SHTUKINA

STANDARD: Gibt es Anzeichen dafür, dass Putin seine Kriegsziele revidiert hat?

Kotkin: Wir haben von Anfang an versucht, uns Klarheit über die russischen Kriegsziele zu verschaffen und Hinweise auf eine tatsächliche Änderung dieser Kriegsziele zu finden, nachdem der Krieg nicht wie geplant verlaufen ist. Präsident Putin ging mit maximalistischen Zielen in diesen Krieg: der Annexion ukrainischen Territoriums, insbesondere der Anbindung des von Russland kontrollierten Ostens und der Krim im Süden, sowie der Entmilitarisierung und Neutralität der Restukraine. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Präsident Putin von diesen Zielen abgerückt ist. Er hat keine Erklärungen diesbezüglich abgegeben. Einige seiner Gefolgsleute, darunter der Verteidigungsminister, haben angedeutet, dass die Kriegsziele eingegrenzt werden könnten. Diese Andeutungen verdienen zwar Aufmerksamkeit, werden aber von der Ukraine, von Washington, der EU und der Nato zu Recht mit Skepsis betrachtet, bis überzeugende Beweise für eine Eingrenzung der Kriegsziele vorliegen.

Jedem ist inzwischen klar, dass die Russen nicht drei Meter groß sind. Aber wir sollten nicht den Fehler machen, daraus zu schließen, dass sie Zwerge sind. Die Russen verfügen über zahlreiche Fähigkeiten, die der Ukraine und dem Westen schweren Schaden zufügen können. Der Krieg könnte bald enden. Er könnte aber auch noch sehr lange weitergehen –mit vielen weiteren Toten. Weitere Überraschungen könnte es auch geben. Wir sehen den 9. Mai, den Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg, als ein Datum, an dem Präsident Putin eine Art Sieg in der Ukraine verkünden könnte. Damit könnte er den jetzigen Krieg mit der Niederlage Nazideutschlands in Verbindung bringen.

Russlands Präsident Wladimir Putin und der nunmehrige stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates Dmitri Medwedew bei einer Kranzniederlegung nahe dem Kreml.
Foto: EPA/MAXIM SHIPENKOV

STANDARD: Befinden wir uns am Anfang eines neuen Kalten Krieges?

Kotkin: Sind Sie sicher, dass der ursprüngliche Kalte Krieg überhaupt aufgehört hat? Ja, die radikale Verkleinerung des russischen Staates hat – bisher – größtenteils gehalten, wobei das Schicksal der Ukraine und von Belarus immer noch offen ist. Aber der Kollaps der russischen Macht 1991 war nicht dauerhaft, genauso wenig wie nach dem Versailler Vertrag von 1919. Die relativ kurze Ruhepause des Westens vom Konkurrenzkampf mit Russland um die Großmachtstellung war gewissermaßen ein historischer Wimpernschlag. Die ganze Zeit über blieb die Koreanische Halbinsel geteilt. China blieb kommunistisch und hat seinen Anspruch auf das demokratische Taiwan niemals aufgegeben. Weit über Asien hinaus bestehen ideologisch unterfütterte Rivalitäten und Widerstände fort, die sich gegen die Macht Amerikas und die erklärten Ideale des Westens richten. Vor allem die Möglichkeit eines nuklearen Armageddons, vielleicht der entscheidende Aspekt des Kalten Krieges, ist weiterhin präsent. Zu argumentieren, dass der Kalte Krieg zu Ende gegangen ist, bedeutet, diesen Konflikt auf die Existenz der Sowjetunion zu reduzieren. Natürlich gab es seit 1991 weitreichende strukturelle Veränderungen – und zwar nicht nur im technologischen Bereich. Bis dahin war China der Juniorpartner in der antiwestlichen alternativen Weltordnung. Jetzt befindet sich Russland in dieser Position. Ganz allgemein hat sich der Wettbewerb der Großmächte in den indopazifischen Raum verlagert. Dieser Wandel begann allmählich während des Kalten Kriegs ab den 1970er-Jahren und hat sich in den frühen Jahren dieses Jahrhunderts sogar noch beschleunigt.

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Der russische Präsident Wladimir Putin trifft Verteidigungsminister Sergej Schoigu während seines Urlaubs in der sibirischen Taiga.
Foto: Sputnik/Alexei Druzhinin/Kremlin via REUTERS

STANDARD: Russland scheint sich oftmals selbst im Weg zu stehen. Folgt das Verhalten einem Muster?

Kotkin: Russland ist eine außergewöhnliche Kultur und ein unverzichtbarer Teil der globalen Zivilisation. Es ist unmöglich, sich unsere Welt ohne russisches Ballett, Oper, Film, Literatur und Wissenschaft vorzustellen. Russland hat in jeder Hinsicht beeindruckende Errungenschaften vorzuweisen. Gleichzeitig haben Russlands Regierungsstrukturen stets großes Leid verursacht. In erster Linie unter der eigenen Bevölkerung. Die wiederkehrenden Episoden russischer Aggression – bei allen Unterschieden von der Zarenzeit über die Sowjetzeit bis heute – spiegeln eine geopolitische Falle wider, die sich die russischen Machthaber immer wieder selbst gestellt haben.

Viele Russen sehen ihr Land als eine von der Vorsehung bestimmte Macht mit einer besonderen Zivilisation und einer besonderen Mission in der Welt. Aber Russlands Fähigkeiten entsprechen nicht den eigenen Ansprüchen. Und deshalb stützen sich seine Herrscher immer wieder auf eine übermäßige Konzentration der Macht im Staat, um die riesige Kluft zum Westen zu schließen. Doch der Versuch, einen starken Staat zu schaffen, ist zum Scheitern verurteilt, da er unweigerlich zu einer autokratischen Herrschaft führt. Die zugrundeliegende Kombination aus Schwäche und Größe treibt den Autokraten wiederum dazu, genau die strategische Herausforderung zu verschlimmern, die sein Auftreten erst ermöglicht hat. Nach 1991, als sich die Kluft zum Westen radikal vergrößerte, blieb Russlands "ewige Geopolitik", wie ich die Falle nenne, bestehen. Sie wird so lange bestehen bleiben, bis sich die russischen Machthaber dazu entschließen, das unmögliche Streben, eine dem Westen ebenbürtige Großmacht zu werden, aufzugeben. Stattdessen müssen sie sich dafür entscheiden, Seite an Seite mit dem Westen zu leben und sich auf die interne Entwicklung Russlands zu konzentrieren.

STANDARD: Wie sollte man in Zukunft mit Russland umgehen, vor allem wenn man den Angriffskrieg und die mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Betracht zieht?

Kotkin: Diplomatische Beziehungen sind mit jeglicher Art von Regierung möglich, ja sogar notwendig. Die USA und das Vereinigte Königreich kämpften im Zweiten Weltkrieg auf derselben Seite wie Stalin. Diplomatie mit Russland muss es geben, auch wenn Putin an der Macht bleibt. Deutschland könnte zu einer Form der Ostpolitik mit seinem riesigen Nachbarn zurückkehren, auch wenn eine deutsche Regierung beim nächsten Mal wahrscheinlich die Interessen der Ukraine stärker berücksichtigen würde. Kurzfristig werden die EU, die USA und Russland mit dem Wiederaufbau der Ukraine konfrontiert sein. Dieser könnte auch Reparationen von Russland beinhalten, bevor man wieder an eine Rehabilitierung Russlands denken kann.

Außerdem könnte es sein, dass es nicht nur ein offizielles Russland in Moskau gibt, sondern auch ein zweites Russland, ein "anderes Russland" der Ausgewanderten. So wie es informell nach der bolschewistischen Machtergreifung und dem Bürgerkrieg 1917–1921 existiert hatte. Dieses Mal könnte dieses "andere Russland" sogar formalisiert werden, wenn Präsident Putin an der Macht bleibt und weiterhin so handelt, wie er gehandelt hat.

Der chinesische Präsident Xi Jinping.
Foto: IMAGO/Xinhua/Huang Jingwen

STANDARD: Nach Ansicht mehrerer Analysten ist China der große Nutznießer eines geschwächten Russlands. Stimmt das?

Kotkin: Kein Land hat von der Katastrophe, die in der Ukraine ausgelöst wurde, profitiert. Xi Jinping, der Putin von China, versucht, ein noch größeres Land als Despot zu regieren. Sein Entschluss, die russische Aggression zu unterstützen, kann China sehr teuer zu stehen kommen. Xis Entscheidung, an seiner "Bromance" mit Putin festzuhalten, könnte eine Fehlkalkulation sein, die genauso groß oder sogar noch größer ist als Putins Invasion.

STANDARD: Halten Sie eine raschere Abkoppelung Chinas und seiner Wirtschaft vom Westen trotzdem für möglich?

Kotkin: Sicherlich strebt Xi keine völlige Abkoppelung von den USA an, denn China ist trotz seines Strebens nach Autarkie nach wie vor von der amerikanischen Spitzentechnologie abhängig. Doch Xi hat etwas, das man im Kartenspiel als Ass im Ärmel bezeichnet. Er hat nämlich einen Keil zwischen die USA und Europa getrieben und dabei auf die Tatsache gesetzt, dass die Europäer Konflikte verabscheuen und lieber Handel treiben – die Illusion, die Angela Merkel und andere "Wandel durch Handel" nennen. Doch nun hat Xis Weigerung, Putins Aggression gegen die Ukraine zu verurteilen oder auch nur als Krieg anzuerkennen und stattdessen den USA und der Nato-Erweiterung die ganze Schuld zuzuschieben, dazu beigetragen, dass die Europäer in der China-Politik wieder den Amerikanern in die Arme laufen. Xis Entscheidung hat China in Gefahr gebracht, nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern auch Europa zu verlieren. Das würde China in der Realität, vor allem im Hightech-Sektor, weit mehr einschränken, als es die Amerikaner in Xis Vorstellung tun. Xi riskiert als großer Verlierer in diesem Krieg zu enden, wenn sich Europa, einschließlich der europäischen Wirtschaft, dauerhaft gegen China wendet.

Es sind noch dramatischere Wendungen möglich. Putin hat schließlich das Überleben des russischen Staates in seiner jetzigen Form aufs Spiel gesetzt. Eine erhebliche Destabilisierung in den weitläufigen Gebieten nördlich von China könnte Peking dazu veranlassen, das von Russland kontrollierte Amur-Flussbecken, das China einst besaß, sowie weiter entfernte Gebiete im östlichen oder asiatischen Teil Russlands zu erobern. Diese Gebiete sind reich an natürlichen Ressourcen und landwirtschaftlichen Anbauflächen, was Chinas Sicherheit stärken könnte. Japan seinerseits könnte eine Gelegenheit sehen, sich die Kurilen, die es in einem Territorialstreit mit Russland beansprucht, und vielleicht auch die Insel Sachalin, deren südliche Hälfte Japan einst beherrschte, anzueignen. Sollte sich Präsident Putin in der Ukraine irgendwie durchsetzen oder sollte Russland im Gegenteil von Instabilität heimgesucht werden, könnte Nordkoreas Führer eine Gelegenheit sehen, sein Regime und seinen Platz in der Geschichte zu festigen, indem er versucht, Südkorea zu erobern.

Video: Wie Tote in Butscha identifiziert und begraben werden
Laut dem Bürgermeister wurden seit dem Abzug russischer Truppen 400 Leichen gefunden. Einige waren in Vorgärten und Gemüsebeeten begraben.
DER STANDARD

STANDARD: Ist dies somit das Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen?

Kotkin: Die Globalisierung an sich wird nicht enden, aber das Trugbild der Eine-Welt-Ideologie ("one-worldism") wird endlich verblassen. Die Umwandlung des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) in die Welthandelsorganisation (WTO) und die Aufnahme von Ländern, die sich nicht an die Regeln hielten, von Ländern, deren staatliche Strukturen an sich im Konflikt mit der WTO stehen, ist gescheitert. Die Globalisierung der westlichen Welt wird fortbestehen und für andere Länder offen bleiben, solange sie nicht versuchen, die westlichen Institutionen zu untergraben oder zu verdrängen. Der Westen ist kein geografischer Begriff. Er ist eine Mischung aus Werten und dazugehörigen Institutionen – individuelle Freiheit, Privateigentum, Rechtsstaatlichkeit, freie Märkte, politische Meinungsverschiedenheiten. Und er umfasst nicht nur Europa und Nordamerika, sondern auch Japan, Südkorea, Taiwan, Australien und andere Länder. Es handelt sich im Grunde um eine freiwillige Einflusssphäre, die gegenseitigen Wohlstand und Frieden bietet. Im Gegensatz dazu steht die geschlossene, zwanghafte Einflusssphäre, die Russland der Ukraine aufzuzwingen versucht und die China in seiner Region und darüber hinaus anstrebt, obwohl es das Gegenteil behauptet. Diese Neuordnung weg von der Eine-Welt-Ideologie hat bereits stattgefunden, auch wenn es in vielen Kreisen Widerwillen gibt, dies anzuerkennen. (Kiyoko Metzler, 20.4.2022)