Es gibt Momente, da lernen Bürgerinnen und Bürger ihren Regierungschef neu kennen. Die Deutschen erlebten derlei am 27. Februar, als ihr Kanzler Olaf Scholz, nur wenige Tage nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine, eine "Zeitenwende" ausrief.
Plötzlich war vieles neu, inhaltlich und stilistisch. Scholz kündigte angesichts der russischen Bedrohung Aufrüstung in ungeheurem Ausmaß an. Und er tat dies so entschlossen, für seine Verhältnisse fast schon markig, dass viele sich verblüfft die Augen rieben. Der zurückhaltende Scholz schien sich als neue Führungspersönlichkeit zu empfehlen, es schien, als habe er, unter Druck, (s)eine neue Rolle in Deutschland und auch für Europa gefunden.
Doch einige Wochen und viele Tausend Tote später ist davon nicht mehr viel übrig. Gewiss, Scholz hat, wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen, ein Herz für die Ukraine und erklärt immer wieder, Berlin stehe solidarisch an ihrer Seite. Doch gleichzeitig fällt der deutsche Bundeskanzler durch seine zögerliche Haltung auf. Vom Ausschluss russischer Banken aus dem Swift-Zahlungssystem musste Berlin erst überzeugt werden. Beim Einfuhrstopp für russische Energie steht Deutschland auf der Bremse.
Und nach Kiew ist Scholz seit Kriegsbeginn – im Gegensatz zum britischen Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – nicht mehr gereist.
Sollte er es für die nächsten Tage vorgehabt haben, wird es jetzt, nach der diplomatisch unglücklichen Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch die Regierung in Kiew, noch um einiges schwieriger. Fährt Scholz, brüskiert er Steinmeier. Fährt er nicht, hat er eine schlechte Nachrede.
Keine Führungsstärke
Dann sind da noch die Waffenlieferungen. Deutschland schickte Luftabwehrraketen, Panzerfäuste, Maschinengewehre, Schutzhelme und -westen und Nachtsichtgeräte in die Ukraine, aber keine schweren Waffen wie Panzer oder Artilleriegeschütze. Selbst die Grünen Annalena Baerbock (Außenministerin) und Robert Habeck (Klima/Wirtschaft) und sogar der linke Grüne Anton Hofreiter fordern nun schwere Waffen für die Ukraine, die FDP attestiert Scholz "Ladehemmung".
Dieser wiegelt ab, spricht von "Alleingängen", die Deutschland vermeiden müsse. Es ist auch davon die Rede, dass die Ukrainer die Waffen ohne Anleitung gar nicht bedienen könnten. Wenn Baerbock erklärt, es gebe jetzt "keine Zeit mehr für Ausreden", dann düpiert sie Scholz bewusst.
Niemand weiß im Moment, wie man diesen schrecklichen Krieg schnell beenden könnte. Es gibt nur viele Meinungen und Strategien, man wägt das Für und Wider ab. Auch Scholz kann keine schnelle Lösung aus dem Hut zaubern. Doch sein Vorgehen löst Unbehagen aus, weil eben gar kein Vorgehen zu sehen ist. Scholz vermittelt keine Führungsstärke, man hat nicht den Eindruck, als habe er einen Plan. Vielmehr wirkt er getrieben.
Mehr Erklärungen des Kanzlers wie jene im Februar im Bundestag wären wünschenswert. Sonst entsteht der fatale Eindruck, dass die Deutschen zwar im Herzen willig sind, aber dass sie – wenn es darauf ankommt – sich wegducken. Weil sie insgeheim hoffen, dass sich die Angelegenheit demnächst auch ohne sie irgendwie erledigen wird. Dieser Fortgang der Geschichte ist allerdings nicht zu erwarten. (Birgit Baumann, 14.4.2022)