Im Gastblog betrachtet der Geologe Thomas Hofmann die frühe Rezeption von Charles Darwin im Wien des 19. Jahrhunderts.

Als der Naturforscher Charles Darwin am 19. April 1882 als 73-Jähriger in seinem Wohnhaus in Down, südlich von London, verstarb, hatten seine Lehren ein neues biologisches Weltbild begründet. Er hatte weltweite Bekanntheit erreicht, heimische Satireblätter weinten ihm nach: "Charles Darwin todt! Nein – lügt nicht so verwegen, Todt ist ein Wort, das für den Mann nicht paßt, Der erst im Kampf um's Dasein unterlegen, Als er des Seins Bedingungen erfaßt; Charles Darwin lebt und wird so lang nicht sterben, Als Art von Art, von Eltern Kinder erben!" ("Die Bombe", 30. April 1882). Wen wundert's, dass man aufrief, ihm Denkmäler zu setzen? Die Initiative ging Anfang Juli 1882 von England aus: Man sammelte für ein Denkmal und die Errichtung einer Darwin-Stiftung zur Unterstützung biologischer Forschungen.

Hierzulande hatte sich im August 1882 ein Lokalkomitee für ein Darwin-Denkmal gebildet. Getragen wurde es von der wissenschaftlichen Elite der Monarchie, angeführt von Alfred Ritter von Arneth, Präsident der Akademie der Wissenschaften. Unter den Proponenten waren die Botaniker Julius v. Wiesner und Anton Kerner v. Marilaun, der Ichthyologe Franz Steindachner, die Geologen Eduard Suess, Franz v. Hauer und Ferdinand v. Hochstetter. Ferner der Chirurg Theodor Billroth, der Paläontologe Melchior Neumayr, der Entomologe Cajetan Felder, von 1868 bis 1878 Bürgermeister von Wien. Auch Regierungsrat und Schulbuchautor Alois Pokorny sowie Richard Drasche, naturwissenschaftlich forschender Sohn des Ziegelbarons Heinrich Drasche, werden genannt. Nicht fehlen durfte Hans Graf Wilczek, der große Wissenschaftsmäzen, bemerkenswert auch der Maler Hans Canon. Er war mit dem monumentalen Deckengemälde, "Kreislauf des Lebens" des damals im Bau befindlichen Naturhistorischen Museums (NHM) beauftragt worden.

Anfang Dezember 1882 waren gerade mal 410 Gulden beisammen, größter Einzelspender war Richard Drasche (100 Gulden), drei Monate später waren es 655 Gulden, umgerechnet wären das 9.116 Euro, die durch Sammelaktionen in Wien, Innsbruck, Prag und Czernowitz zusammenkamen. Jedenfalls nicht genug für ein repräsentatives Denkmal. Die Engländer waren erfolgreicher, am 9. Juni 1885 wurde im Londoner Natural History Museum ein sitzender Darwin aus edlem Cararramarmor enthüllt.

Sammelaufruf für ein Darwindenkmal (Prager Tagblatt, 20. August 1882).
Foto: ANNO

1860: "Über Darwin's Schöpfungstheorie" und "Allgemeine Erdkunde"

Wenn es mit einem großen posthumen Darwindenkmal auch nichts wurde, so war man in Wien stets am Puls der Zeit. Zunächst die Eckdaten der zwei wichtigsten Darwinwerke: 1859 erschien "On the Origin of Species" (deutsch ab 1860: "Über die Entstehung der Arten"). Mehr als eine Dekade später, 1871, folgte "The Descent of Man" (deutsch 1871: "Die Abstammung des Menschen").

Darwins Lehre stieß bei den gebildeten Schichten der Wiener Bevölkerung auf großes Interesse. Für 10. und 17. Dezember 1860 waren im Rahmen der "Montags-Vorlesungen", die sich an ein breites Publikum wandten, von Gustav Jäger, seines Zeichens Zoologe, Mediziner und Direktor des Tiergartens im Prater, Vorträge "Über Darwin's Schöpfungstheorie" angekündigt worden ("Wiener Zeitung", 13. November 1860). Damit wurde in Wien der öffentliche Diskurs über Darwin eröffnet.

Forscher hatten schon vorher zu Darwins Werk gegriffen: Dazu der Tagebucheintrag vom 26. November 1860 von Franz v. Hauer (k.k. geologische Reichsanstalt, heute: GBA): "Nachmittag u. Abend viel in Darwin‚ über ‚die Entstehung der Spezies‘ gelesen, dann Bibliothek geordnet." Ferdinand v. Hochstetter, er war nach der Weltumsegelung der Fregatte Novara (1857–1859) Professor am Polytechnikum in Wien (heute TU) geworden, referierte am 18. Februar 1861 über ausgestorbene Riesenvögel von Neuseeland, die Moas. Bei der Frage nach deren Aussterben und der Entstehung neuer Arten zitierte er Darwin: "Im 'Kampf um das Dasein‘, wie es Darwin geistreich ausdrückt, müssen wir das Princip zur Lösung dieser Fragen suchen". Hochstetter gehörte mit Gustav Jäger zu den Darwinverfechtern der ersten Stunde.

Gustav Jäger und Ferdinand v. Hochstetter, Wiener Darwinverfechter der ersten Stunde.
Foto: Gemeinfrei/NHM-Archiv

1872: "Allgemeine Erdkunde" und Darwingasse

Im Mai 1872 erschien die "Allgemeine Erdkunde", ein Werk für Lehrer, speziell als Lehrbuch für den "naturwissenschaftlichen Theil des Unterrichts". Verfasst von Julius Hann, Ferdinand v. Hochstetter und Alois Pokorny (Schuldirektor des Leopoldstädter Realgymnasiums). Hann war Meteorologe an der k. k. Central Anstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus (heute: ZAMG) und von 1877 bis 1897 deren Direktor. Dementsprechend lautete der Untertitel des Buches: "Ein Leitfaden der astronomischen Geographie, Meteorologie, Geologie und Biologie". Da die Verfasser den Anspruch hatten, den "neuesten Stand der Wissenschaft" zu berücksichtigen, wurden auch Darwins Arbeiten, angefangen von seinen frühen Forschungen über Atolle, entsprechend gewürdigt. Es war die erste Erwähnung von Darwinismus in einem deutschsprachigen Schulbuch. Nicht alle jubelten, es gab auch Rufe nach einer differenzierteren Darstellung: "Als wünschenswerth müssen wir jedoch bezeichnen, daß Dr. Pokorny eindringlicher, als er es gethan hat, auch die Einwürfe gegen die Darwin´sche Hypothese berücksichtigt hätte. ("Literarisches Zentralblatt für Deutschland", 1873, 2. August).

Die steten Diskussionen von Darwins Werk führten zur großen Popularität des Naturforschers. 1872 hat man ihm zu Ehren in Wien-Leopoldstadt die "Darwingasse" – sie läuft parallel zur Heinestraße und verbindet die Taborstraße mit der Nordbahnstraße – benannt.

Seit 1872 gibt es in Wien-Leopoldstadt die Darwingasse.
Foto: Hofmann

Die "Brühl'schen Vorlesungen" und Sigmund Freud

Anfang November 1872 wurde das Thema der Brühl´schen Vorlesungen für das Wintersemester verkündet (5. November 1872, "Das Freie Blatt"). Es waren "unentgeltliche Vorlesungen über die Darwin'sche Lehre", die von November 1872 bis Februar 1873 an Samstagen an der Universität Wien in den Räumen der einstigen Gewehrfabrik (Alsergrund, Währinger Straße 11-13, Schwarzspanierstraße 17) abgehalten wurden. Carl Bernhard Brühl (1820–1899), Arzt und Volksbildner, engagierte sich unter anderem für die Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium. Ab 1864 hielt er "Unentgeltliche Sonntags-Vorlesungen über den Bau des Menschen und der Thiere für Herren und Frauen", die gut besucht waren. Mit Darwin am Programm wurde er zum Multiplikator seiner Ansichten.

Im Übrigen waren Brühl und Darwin auch ausschlaggebend für Sigmund Freud Medizin zu studieren. Dazu Freud in seiner "Selbstdarstellung" (1925): "Indes, die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach, und ich weiß, dass der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz 'Die Natur‘ in einer populären Vorlesung von Prof. Carl Brühl kurz vor der Reifeprüfung die Entscheidung gab, dass ich Medizin inskribierte." Freud besuchte das Leopoldstädter Realgymnasium (Taborstraße 24), wo oben erwähnter Pokorny Direktor war. Wir dürfen annehmen, dass er den jungen Sigmund, der 1873 maturierte, mit Darwins Lehre konfrontiert hatte.

Bereits 1872 waren Darwins Erkenntnisse in Schulbüchern ein Thema.
Foto: Bayerische Staatsbibliothek München

1881: Darwins Fassadenkopf am Naturhistorischen Museum

Darwin war ab Mai 1881, als man das Gerüst vom im Bau befindlichen Museum entfernt hatte, an der Fassade zu sehen. Unter den zahlreichen Porträtköpfen, Statuen und Inschriften großer Gelehrter, deren zeitlicher Bogen sich von der Antike bis ins 19. Jahrhundert spannt, war Darwin als einziger zu Lebzeiten hier vertreten. Sein Kopf, geschaffen vom Bildhauer Josef Beyer, befindet sich auf der Fassade zur Ringstraße hin über einem Fenster im zweiten Stock. Franz v. Hauer nennt in seinem 1889 veröffentlichten Museumsführer 1877 als Entstehungsjahr. Damit ist auch der Mastermind des Wiener Darwinkopfes klar: Ferdinand von Hochstetter, er war 1876 zum Intendanten des damals im Bau befindlichen Museums ernannt worden.

Die ringstraßenseitige Fassade des Naturhistorischen Museums mit Charles Darwin.
Foto: Hofmann
Der Darwin-Fries in der Kuppelhalle des Naturhistorischen Museums.
Foto: NHM/Schumacher

Ein weiteres Darwin-Highlight im NHM ist der "Darwinfries" von Johannes Benk in der oberen Kuppelhalle. Zu sehen ist ein Affe, der einem Knaben einen Spiegel vor Augen hält. Dieser hält sich die Augen zu. Dahinter abermals ein Affe, in seinen Händen das Buch "Darwin. Abstammung des Menschen". Diese Fakten sind für Stefanie Jovanovic-Kruspel Argumente, das NHM in seiner Gesamtkonzeption, die neben den beiden Architekten Gottfried Semper und Carl Hasenauer die Handschrift Hochstetters trägt, als "erstes konsequentes 'Evolutionsmuseum‘ Europas" zu bezeichnen. Freilich konnte Hochstetter die Eröffnung des Hauses im August 1889 nicht mehr erleben. Er war fünf Jahre früher, am 18. Juli 1884 verstorben, ihm folgte 1885 Franz v. Hauer auf diese Position nach. (Thomas Hofmann, 19.4.2022)