Berlin-Kreuzberg, Anfang der 1980er-Jahre: Michael Schmidt fängt das dystopische Lebensgefühl der Stadt ein.

Stiftung Michael Schmidt

Ohne Titel, aus einer Serie über Lebensmittel, entstanden zwischen 2006-2010.

Stiftung Michael Schmidt

Es ist eine Welt aus Grautönen. Erst am Ende der fünf Jahrzehnte andauernden Karriere des Michael Schmidt (1945–2014) schleichen sich einige Farbbilder in sein Werk. Das Berlin, das der Kreuzberger Fotograf zum Hauptmotiv seines Lebens erkoren hat, ist dagegen Grau in Grau.

Es ist das Berlin der Wendejahre, der Brachflächen und Abbruchhäuser, der Nachteulen und des Asphaltdschungels, dem Schmidt ein Gesicht gegeben hat. Waffenruhe heißt jene Serie aus dem Jahr 1987, mit der Schmidt seinen Durchbruch feierte, und wenn man in der Wiener Albertina heute darauf blickt, dann weiß man auch sofort, warum.

Vorher Polizist

Hier ist in grell geblitzten Aufnahmen der Mythos Berlin eingefangen, all das Kaputte und Widerständige, all die Härte und Trostlosigkeit. Jahre später wird man mit einem romantisierenden Auge auf diese Stadt im permanenten Ausnahmezustand blicken, in der Zeit, als Michael Schmidt ihr ein Gesicht gab, war Berlin noch eine geteilte Stadt abseits der Macht- und Geschäftszentren. Wer hierherkam, der flüchtete vor seinem Elternhaus oder der Bundeswehr. In Kreuzberg, dem östlichsten der Westbezirke, fand mancher zwischen Bierdosen und Dönerbuden eine Heimat.

Hier lebte auch Schmidt, ein Polizist, der in den 1960er-Jahren zur Fotografie fand. Im Auftrag diverser Bezirksämter fotografiert er die Bewohnerinnen und Bewohner der Berliner Stadtviertel. Seine früheste Serie ist seinem Heimatbezirk gewidmet, dessen Hinterhöfen und Großfamilien. Schmidt arbeitet fragmentarisch und mit starken Kontrasten, jegliche Nostalgie, die in den Berlinbüchern der damaligen Zeit vorherrscht, lehnt er ab. In der Serie Berlin-Wedding fertigt er akribisch vorbereitete Doppelporträts der Bewohner des Viertels an, einmal in ihrem Wohn-, dann in ihrem Arbeitsumfeld. Von Serie zu Serie ändert sich Schmidts Konzept, Wiederholung ist seine Sache nicht, auch wenn die großen Motive – Berlin und die deutsche Geschichte – sich nicht verändern werden.

Verluste und Ängste

Mit der über einen Zeitraum von drei Jahren entstandenen Serie Waffenruhe, die im Martin-Gropius-Bau direkt an der Mauer gezeigt wird, setzt er dem dystopischen Lebensgefühl Berlins kurz vor der Wende ein Denkmal. Seine eigene Tochter zeigt ihm die Punkszene der Stadt, persönliche Verluste treffen auf kollektive Ängste. Einar Schleef schreibt das Vorwort des heute teuer gehandelten Fotobuchs.

Nach der Wende weitet sich Schmidts Blick, in dem 163 Fotos umfassenden Großprojekt Ein-Heit kombiniert er eigene Aufnahmen mit vorgefundenen Bildmaterialien aus Printmedien. Der Zugang ist assoziativ, aber von bestechender Konsequenz. Deutsche Geschichte trifft auf deutsche Gesichter, aus den Fragmenten schält sich das Gesamtbild einer verstörten, von der Vergangenheit geprägten Gesellschaft. Brüche werden Schmidt auch weiterhin interessieren: Er macht sich auf in die deutsche Provinz; in seiner letzten Werkgruppe widmet er sich der Lebensmittelbranche. Hier kommt dann auch ein wenig Farbe ins Spiel. (Stephan Hilpold, 15.4.2022)