Die Überfahrten von Geflüchteten über den Ärmelkanal sind zuletzt stark gestiegen. Die Regierung in London will sie nun wieder reduzieren.

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Im Kampf gegen den Menschenhandel mit Wirtschaftsmigranten setzt Großbritannien auf eine afrikanische Lösung. Zukünftig werden alleinreisende junge Männer, die per Lastwagen oder Schlauchboot auf die Insel kommen, ins 7.000 Kilometer entfernte Ruanda geflogen. Dort sollen sie die Aufnahme und ein Asylverfahren erhalten, eine Rückkehr ins Königreich wäre ausgeschlossen. "Wir holen uns die Kontrolle über unsere Grenzen zurück", sagte Premier Boris Johnson am Gründonnerstag in Anspielung auf einen Slogan der Brexit-Kampagne.

Innenministerin Priti Patel wollte am Donnerstag in Kigali einen Vertrag mit der wegen Menschenrechtsverletzungen umstrittenen Regierung von Präsident Paul Kagame abschließen. Für die Anlaufphase bezahlt London 120 Millionen Pfund (144,5 Millionen Euro); wenn das Vorhaben wie geplant gelingt, würde London jährlich 1,4 Milliarden Pfund (1,68 Milliarden Euro) überweisen.

Patrouillen im Ärmelkanal

Johnson sprach von einem "weltweit führenden Asylsystem" und brüstete sich damit, jährlich würden Tausende von Menschen aus Syrien, Afghanistan und der Ukraine auf sicherem Weg aufgenommen. Gerade deshalb müsse man dem "parallelen illegalen System" beikommen. Dazu gehört auch, dass nun die Navy im Ärmelkanal patrouillieren soll. Inwiefern dies die internationalen Verpflichtungen des Königreichs verändert, ließ der Premierminister offen.

An klaren Tagen mit ruhiger See, wie derzeit, schaffen viele Hundert Menschen täglich die gefährliche Reise, am Mittwoch gelang mehr als 600 die Überfahrt. Diese kostet zwischen 3.000 und 7.000 Euro pro Person; immer wieder kommt es zu Todesfällen.

Laute Kritik

Die Ministerin hat ihr neues Grenzschutzgesetz mit der Behauptung begründet, das bestehende Asylsystem sei "kaputt". Zukünftig sollen nicht nur verurteilte Menschenschmuggler lebenslange Freiheitsstrafen erhalten, auch die "illegal" Einreisenden sollen im Knast landen. Dem "ekelhaften Geschäft krimineller Banden" müsse das Handwerk gelegt werden, fordert Patel: "Zugang zum Asylsystem sollte von der Notlage abhängen, nicht von der Zahlungsfähigkeit."

Die Lobbyorganisation Refugee Council (RC) sprach von einer "grausamen und hässlichen" Maßnahme. "Anstatt dauernd von Kontrolle zu reden, sollte sich die Regierung auf Kompetenz und Mitgefühl konzentrieren", findet RC-Chef Enver Solomon. Im Land gebe es schließlich viele Millionen von Menschen, deren Eltern oder Großeltern auf gefährlichem Weg ins Land gekommen seien.

Ruanda als neue Variante

Kritiker der Abschiebung von Asylbewerbern nach Übersee wiesen auf eine peinliche Tatsache hin: Das neue Grenzschutzgesetz, das die Möglichkeit für diese Maßnahme enthält, befindet sich noch im parlamentarischen Verfahren. Das Oberhaus hat bereits zweimal die vom Unterhaus mit konservativer Mehrheit beschlossene Novelle zurückgehen lassen. Heftige Kritik galt dabei neben der sofortigen Inhaftierung für Asylwerber, die sich den Behörden ohne Visum präsentieren, der jetzt geplanten Einrichtung von Flüchtlingszentren weitab der Insel.

Ruanda ist lediglich der jüngste Standort, den Patel geprüft hat. Zuvor waren bereits die zu den Resten des britischen Kolonialreichs zählende Ascension Island, auf Deutsch Himmelfahrtsinsel, im Südatlantik ins Gerede gekommen. Die von London ebenfalls als Auffangstaaten ins Spiel gebrachten Länder Albanien und Ghana haben das britische Anliegen brüsk zurückgewiesen.

Ablenkung von "Partygate"?

Ob die jetzt präsentierte Lösung – wegen der vielen unausgegorenen Faktoren verlegen als "Versuch" gekennzeichnet – längeren Bestand haben wird als frühere Ideen wie jene, die Schlauchboote im Ärmelkanal durch künstlich produzierte Wellen abzuschrecken? In jedem Fall kommt ein heftiger Streit mit der Opposition Johnsons Brexit-Regierung gerade recht, gilt es doch, von den massiven Rechtsbrüchen in der Downing Street während der Corona-Lockdowns abzulenken.

Ein energischer Kampf gegen das vermeintlich große Problem der Wirtschaftsmigration hingegen kommt beim Partei- und Wahlvolk immer gut an, von den überwiegend konservativen Londoner Zeitungen ganz zu schweigen. (Sebastian Borger aus London, 14.4.2022)