Dass der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew nicht willkommen ist, mag Berlin empört haben. In der Ukraine selbst aber sorgte die Ausladung durch dessen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj fast ausschließlich für positive Reaktionen. Steinmeier, früher enger Vertrauter des deutschen Altkanzlers und nunmehrigen Gaslobbyisten Gerhard Schröder, gilt in Kiew nicht zuletzt durch sein Engagement für die Pipeline Nord Stream 2 als äußerst Russland-freundlich. Ein für die Ukraine unglücklicher Vorschlag zur Umsetzung des ohnehin ungeliebten Minsker Abkommens ist in der Bevölkerung als "Steinmeier-Formel" verschrien und kam jahrelang einem Schimpfwort gleich.

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Seit dem Rückzug der Russen aus der Region um Kiew empfängt Wolodymyr Selensky wieder verbündete Staatsgäste – manche auch sehr herzlich. Nicht aber den Deutschen Frank-Walter Steinmeier.
Foto: KPRP via Reuters / Jakub Szymczuk

Steinmeier, der frühere Außenminister, steht in Kiew wie kein anderer für so ziemlich alles, was Deutschland im Umgang mit Russland falsch machte – angefangen bei den nach ukrainischer Meinung lächerlichen Sanktionen für die russische Annexion der Krim und den Beginn des Krieges im Donbass bis zum Engagement für Nord Stream.

Viele Menschen in der Ukraine meinen, das Minsker Abkommen sei dem Land nicht zuletzt durch Steinmeier und Ex-Kanzlerin Angela Merkel aufgezwungen worden. Als diese im August 2021 zum letzten Mal nach Kiew flog, wurde sie kühler als je zuvor empfangen. Als Grund galt damals die gemeinsame Erklärung von Deutschland und den USA zu Nord Stream 2, die de facto das politische grüne Licht für die Pipeline gab.

Verständlich, aber auch klug?

Emotional mag die Ausladung Steinmeiers ja nachvollziehbar gewesen sein, politisch klug war der Schritt aber nicht unbedingt. Ja, Steinmeier mag mit seiner Russland-Politik durchaus dafür mitverantwortlich sein, dass es überhaupt eine Ausgangslage gab, die zum Angriff führte; ja, er mag seine Fehler im Umgang mit Russland öffentlich zugegeben haben, wenngleich spät und nach deutlicher Kritik durch den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk. Fraglich bleibt, ob Selenskyj bei einer gesichtswahrenden Reise eines gescheiterten Außenpolitikers jedenfalls hätte mitmachen müssen.

Andererseits geht es hier nicht nur um Steinmeier, sondern um Deutschland, dessen gewähltes Staatsoberhaupt er ist. Trotz aller Differenzen ist Deutschland ein Verbündeter Kiews, der auch Waffen liefert. War es angebracht, einen Verbündeten in Zeiten des Krieges öffentlich derart zu demütigen?

Dennoch kommt dieser Schritt nicht von ungefähr. Als Selenskyj im Frühjahr 2019 Petro Poroschenko folgte, veränderte sich die Außenpolitik Kiews massiv. Tatsächlich hat das viel mit der Person des Ex-Komikers Selenskyj zu tun, der oft das sagt, was er wirklich denkt. Mit ihm wurde die diplomatische Kommunikation, auch gegenüber westlichen Partnern, viel selbstbewusster.

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2019 gab es noch u. a. von Macron (Mitte) moderierte Gespräche zwischen Selenskyj (links) und Putin (rechts).
Foto: AP / Thibault Camus

Der vergleichsweise junge Außenminister Dmytro Kuleba scheute etwa nicht davor zurück, die G7-Botschafter öffentlich für die "zu starke Einmischung" in innere Angelegenheiten zu kritisieren. "Leider werden sich die Ukrainer noch Jahrzehnte lang daran erinnern", kritisierte Kuleba außerdem noch im vergangenen Jänner ganz unverblümt die deutsche Regierung, die damals noch ihr klares Nein zu Waffenlieferungen in die Ukraine betonte.

Seriosität gefordert

So laut wie Berlin-Botschafter Melnyk ist Kuleba nicht – die strategischen Ziele sind jedoch die Gleichen. Dass sich jetzt gerade viele Spitzenpolitiker der SPD durch die Äußerungen Melnyks und die Ausladung Steinmeiers angegriffen fühlen, ist aus Kiews Sicht eventuell sogar so gewollt: Denn Deutschland gehört neben Österreich zu den letzten EU-Ländern, die harsche Sanktionen im Banken- und Energiebereich blockieren. Fast alles, was Melnyk öffentlich forderte, muss Deutschland jetzt tatsächlich tun – und der von Melnyk angegriffene Steinmeier musste sich entschuldigen, was er sonst in dieser Form wohl nicht getan hätte.

So wie sich der Krieg entwickelt, sind etwa Lieferungen von schweren Waffen und ein hartes Energieembargo früher oder später unausweichlich, das weiß man auch in Berlin. Die Ukraine muss jedoch aufpassen: Die Komfortwelt der Berliner Bundespolitik gelegentlich zu ärgern, das mag nicht so schlimm sein. Auf der Ebene von Selenskyj muss die Diplomatie jedoch äußerst seriös geführt werden.

Kritik am Vatikan

Wo die Ukraine mit ihrer klaren diplomatischen Linie zumindest aus eigener Sicht aber jedenfalls recht hat, das ist etwa die harte Kritik am Vatikan: Papst Franziskus will bei der Karfreitagsprozession eine ukrainische und eine russische Familie gemeinsam das Kreuz tragen lassen. So gut solche Aktionen auch gemeint sein mögen, stellen sie für die Ukrainer im Moment doch eine Art Beleidigung dar: Man will mehrheitlich keine Versöhnung mit dem russischen Volk, welches den Angriffskrieg durchaus unterstützt; man will vielmehr von Russland einfach nur in Ruhe gelassen und von gemeinsamen historischen und kulturellen Narrativen verschont werden.

Dies sollte zumindest für den Moment auch der Vatikan verstehen und respektieren. (ANALYSE: Denis Trubetskoy aus Lwiw, 15.4.2022)