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Das Trolley-Problem – im deutschsprachigen Raum auch als Weichenstellerfall bekannt – gibt vor, dass Menschen von einem Schienenfahrzeug überfahren werden. Die Frage ist nur: wie viele? Und schreitet man dafür selbst ein?
Foto: Neil Hall / Reuters

Würden Sie einen Menschen töten, um fünf andere zu retten? Für solch heikle Gedankenexperimente gibt es eigentlich keine "richtige" Antwort – und gerade deshalb sind sie in der Moralphilosophie und auch der Verhaltensforschung so interessant: Sie geben Einblicke in Denkweisen, Prioritäten und Hemmungen von Personen. Über Weltregionen hinweg lassen sich so auch Vergleiche anstellen. Eine neue Studie kam hier auf ein interessantes Ergebnis und zeigte, dass Menschen auf der ganzen Welt eine ähnliche Tendenz haben, wenn sie sich im Rahmen eines solchen hypothetischen Moraldilemmas entscheiden müssen.

Zu den bekanntesten Gedankenexperimenten zählt das sogenannte Trolley-Problem – das nach dem englischen Begriff für "Straßenbahn" benannt ist. Dabei rollt ein Schienenfahrzeug, das sich nicht stoppen lässt, auf fünf Personen zu, die Arbeiten an der Hauptstrecke erledigen. Das Fahrzeug wird alle fünf Menschen töten, sofern die Versuchsperson die Weichen nicht per Knopfdruck umstellt. Dann fährt das Fahrzeug allerdings auf ein Nebengleis, wo "nur" zwei Personen überfahren werden würden.

Umfangreiche Studie

Im ersten Fall lässt man also den Dingen ihren Lauf, im zweiten Fall muss man aktiv eingreifen. Hier nimmt man zwar das mehr oder weniger geringere Übel in Kauf. Man könnte aber auch argumentieren, dass man mit der Weichenstellung Mord an zwei Personen begeht.

Dies war eines der Dilemmata, mit denen auch die rund 27.500 Probandinnen und Probanden aus der aktuellen Studie konfrontiert waren. Die Teilnehmenden stammten aus 45 verschiedenen Ländern, beteiligt waren neben dem leitenden Forscher Bence Bago vom Institute for Advanced Study in Toulouse (Frankreich) auch Forschende der Hauptuniversität und der Wirtschaftsuniversität Wien, der Uni Salzburg und der Karl Landsteiner Universität in Krems (Niederösterreich).

Das geringste Übel

Wie das Forschungsteam im Fachjournal "Nature Human Behaviour" berichtet, zeigte sich bei der Lösung moralischer Dilemmata folgende Tendenz: Lässt sich eine Entscheidung zwischen dem Tod weniger und dem Ableben vieler mit einem "einfachen" Knopfdruck treffen, entscheiden sich viele Menschen dafür, jene Handlung auszuführen, die die Wenigen zugunsten der Vielen opfert.

Muss man jemanden allerdings mehr oder weniger aktiv ins Jenseits befördern, um mehrere andere zu retten, geben deutlich weniger Menschen an, das in Betracht zu ziehen, wie die Studie unterstreicht. Eine wesentliche Änderung zeichnet sich erst in bestimmten Varianten des Trolley-Problems aus, in denen man etwa eine Person vor den Zug schubsen muss, um diesen aufzuhalten. In diesem Fall treffen Menschen seltener die "utilitaristische" Wahl nach der Logik des geringsten Übels.

Schubsen oder nicht schubsen?

Dass psychologische und Situationsfaktoren die Entscheidung in diesem Dilemma mitunter sehr stark beeinflussen können, zeigte ein US-amerikanisches Forschungsteam in einer Studie aus dem Jahr 2009. Die Forschenden argumentierten unter anderem dahingehend, dass das Aufwenden von physischer Kraft hier eine entscheidende Rolle spielt. Muss man also tatsächlich Hand an eine Person legen, um diese zum Wohle mehrerer zu töten, führt das zu anderen Einschätzungen. Untersucht wurde diese Veränderung der Einschätzung aber bisher nur in Ländern aus dem westlichen Kulturkreis, so das Team in der neuen Studie.

Die aktuellen Ergebnisse unterstützen nun die Annahme, dass es sich hier um einen psychologischen Mechanismus handelt, der mehr oder weniger überall zu beobachten ist. Muss man persönlich Kraft aufwenden und eine Person aktiv vor den Zug werfen, trifft man die utilitaristische Wahl weltweit seltener.

Kein Ost-West-Unterschied

Die Fachleute testeten zum Beispiel auch, ob der Effekt in tendenziell individualistisch-westlichen und eher gemeinschaftlich orientierten Gesellschaften etwa in Ostasien unterschiedlich ausfällt. Der Gedanke dahinter war, dass in letzteren das mehr oder weniger kühle Abwägen und das Ausführen einer Tötungshandlung mit körperlicher Kraft insgesamt moralisch-ethisch weniger akzeptiert werden könnte.

Es fanden sich in den Daten aber keine Hinweise darauf, dass der Kulturkreis hier eine große Rolle spielt. Die Forschenden gehen demnach davon aus, dass es sich bei dem 2009 in den USA entdeckten Effekt um eine Abwägung handelt, die überall auf der Welt nach den gleichen Mustern abläuft – und damit sozusagen "universell" ist. Dies könnte auch ein Indiz dafür sein, dass die entsprechende Bewertung nicht erst erlernt wurde. (red, APA, 15.4.2022)