Geritzte Eier aus dem Burgenland, wo unser Autor lebt: "Die Ostergeschichte erzählt im Kern von der unvermeidlichen Berg-und-Talfahrt der Menschenkinder."

Foto: APA / Robert Jäger

In dem Dörfchen, in dem ich daheim sein darf, gibt es einen seltenen, schönen Brauch: das Osternacht singen. Nach den offiziellen Feierlichkeiten des Karsamstags – die "Auferstehung" ist eine der prächtigeren Inszenierungen im Theatrum Catholicum – sammeln sich vor der Kirche die Männer des Gesangsvereins. Sie werden sich, einem uralten Auftrag folgend, die nun kommende Nacht um die Ohren schlagen.

Von der Kirche aus ziehen sie durch den Ort, bis in dessen hinterste Winkel. Mit sich tragen sie ein schlichtes Lied. Einstimmig mahnen sie erst sich und einander: "Meine Herr’n, seid munter und wach, der Tag vertreibt die finstere Nacht, das Firmament tut sich wenden." Dann erinnern sie, immer wieder aufs Neue, dreistimmig die schlafenden Dörfler und Dörflerinnen: "Wache auf, wache auf, du frommer Christ, weil heut der Tag der Gnade ist."

Da und dort wird Speise gereicht. Und Trank natürlich. Mag sein, allmählich verschleifen sich auch die Stimmeinsätze. Aber unverdrossen singen die Männer – zunehmend fröhlicher, gewiss – die frohe Botschaft durchs Dorf. "Der Tag vertreibt die finstere Nacht, das Firmament tut sich wenden."

Eine grandiose Geschichte

Fällt Ostern spät, so wie heuer, kann eine Nacht wie diese schon eine Draußensitznacht sein. Der Blaufränkische, der in der Gegend gekeltert wird, ist ein guter Sitzgenosse. Bald wird die Nacht stiller. Dann still. Noch schreien die Grillen nicht. Nur da und dort kreischt zänkisch ein Marder. Der Kater seufzt zum Steinerweichen. Frühlingsprall spannt sich die dunkle Luft. Der Blaufränker gurgelt beim Nachschenken. Und von Ferne hörst du dann schon die Männer: "Das Firmament tut sich wenden."

Man muss nicht bei Hermann Nitsch in die Schule gegangen sein, um den numinosen Charme mancher Nächte, wenn schon nicht gleich zu verspüren, so doch sickern zu lassen, auf dass hin und wieder eine Gottesschnuppe zische übers Sinnierfirmament. Solche Augenblicke sollte niemand allzu leichtfertig vorübergehen lassen.

Meistens quatscht ja eh wer dazwischen. Und sei es nur Friedrich Nietzsches "toller Mensch" mit seinem vielschichtigen Ruf, dass Gott tot sei. "Was denn sonst", fragt der Blaufränker, "wird Ostern nicht genau deshalb gefeiert?" – "Aber", wirfst du, eh zaudernd, ein, "ist der Herrgott nicht auferstanden? In dieser Nacht? Feiern wir Ostern nicht deshalb?" – "Die einen sagen so, die anderen so." – Und wenn Gott nun aber doch tot ist?" – "Tut das nichts zur Sache. Denn wer wären wir, darüber zu befinden?"

Widerstandsfähig gegen Faktencheckerei

Ostern ist eine grandiose Geschichte. Und epochenwendend jedenfalls in den christgeprägten Landen, die sich damit auch unauflöslich an ihre antike Vorzeit geknüpft haben. Dass Gott ins Fleisch eines Menschenwurmes steigt, um sich verfolgen, erniedrigen, verspotten, quälen und schließlich auf grausamste Weise töten zu lassen, ist ja nicht nichts.

Dass er das alles aber auf sich genommen hat, um dem Tod – zu dem er das in Sünde gefallene Menschengeschmeiß eigentlich verflucht hatte – den Stachel zu ziehen, machte Ostern jahrhundertelang auch weitgehend widerstandskräftig gegen allfällige Faktencheckerei, die es von Anfang an gegeben hat. "Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe", so erzählt schon der Evangelist Johannes vom evidenzversessenen Thomas, "und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht."

Man sollte es unternehmen, die Bibel zu lesen wie ein Stück Literatur. Man erspart sich damit nicht bloß die kleinliche Thomaserei, die der Wahrheitsfindung ungefähr so weiterhilft wie die Frage, ob Odysseus tatsächlich in die Irre gesegelt sei. Die Frage, ob die Angelegenheit wahr sei oder wirklich wahr, ist da belanglos. Vielleicht müssten sich über die Bibel nicht die Pfarrer hermachen, sondern die Dichter.

Erzählen statt Predigen

Zum Beispiel der leider Gottes viel zu wenig wahrgenommene Siegmund Kleinl. Der hat sich etwa fulminant an die alttestamentarischen Propheten gewagt. In seiner sehr ans Herz zu legenden Gedichtsammlung PropheZeit. Dem Wort im Wort (2019, Edition Marlit) beutelt er das durchs Ablutschen längst betulich Gewordene zu neuer, überraschender, in die und nicht aus der Zeit fallende Besinnung.

"Am freien, literarischen, poetischen Wort", so schreibt er es freilich wahrsprechend ins Vorwort seiner Prophetendichtung, "hat die Kirche, bis auf einen heiligen Rest, kein Interesse." Schad drum. Die großen Erzählungen leben durchs Erzählen. Nicht durchs Predigen.

"Lehrsätze", sagt Kleinl, "sind gut, wenn sie das Wort so vermitteln, dass es zur Sprache kommt, das heißt, über die Anstrengung des Begriffs den festen Aggregatzustand wieder verflüssigen und die Flut der Worte in Luft verwandeln, in das Medium des frei wehenden Geistes."

Der Gottesfluch der Erbsünde

Die Ostergeschichte erzählt im Kern von der unvermeidlichen Berg-und-Talfahrt der von sich, ihresgleichen und dem Gottesfluch der Erbsünde geschurigelten Menschenkinder. Auch Gott selbst entkommt dem nicht, steigt er ins Menschfleisch. Die Karwoche ist wie ein phylogenetischer Schnelldurchlauf der manisch-depressiven Humanfisimatenzen: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.

Mit gloriosem Hosianna zieht der Menschensohn in die ihn bejubelnde Stadt. Reitet, so seine Friedfertigkeit illustrierend, auf einem noch ungerittenen Esel. Stürmt allerdings sogleich eifernd das Tempelareal, wirft zornig die Tische der Bankiers und gar die Stände der Taubenhändler um.

Randaliert mit den anmaßenden, hier von Markus überlieferten Worten: "Steht nicht geschrieben: ‚Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker‘? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht!" Ein Gerechter? Ein Selbstgerechter?

Nicht durch die Erbsünde geplagt, sondern durch Corona-Masken: Osterhasen im Burgenland.
Foto: APA / Robert Jäger

Der stadtbeherrrschende Klerus suchte nach Jesus, um ihm Hand- und Mundwerk zu legen. Abzuhauen, das lehnte er ab. Stattdessen lud er zum Essen, zog sich danach in den Garten Getsemane zurück, wo er – ängstlich im Angesicht des nun absehbar Kommenden – bat, den bitteren Kelch eventuell doch vorübergehen zu lassen.

Judas war da schon bei der Polizei, Jesu Aufenthaltsort zu verraten. Ein scheinheiliger Bruderkuss identifizierte den Aufwiegler. Simon Petrus zog, Jesus verteidigend, sein Schwert, hieb einem der Polizisten ein Ohr ab, doch noch in dieser Gründonnerstagnacht – noch bevor der Hahn zum dritten Mal schrie – stellte sich der Mannesmut des Ersten der Jünger als der bloße Jähzorn eines Feiglings heraus. Petrus leugnete kurz danach hartnäckig, Jesus zu kennen.

Und so nahm dann das österliche Geschehen seinen bekannten, wieder und wieder liturgisch gefeierten, an jedem Kreuzweg und Kalvarienberg bis fast zum Überdruss anschaulich gemachten Gang: hinauf nach Golgotha. Dann hinunter zum Teufel. Wieder hinauf an die Rechte seiner eigenen Väterlichkeit, wo er nun als Christus sitzt bis ans Ende der Zeit.

Es geht ans Sterben

Zu Ostern geht es aber nicht bloß abstrakt um den Tod. Es geht buchstäblich ans Sterben. Für jene, die Menschen auf ihrem letzten Gang begleitet haben, klingt die Passionserzählung – den ein wenig zu grell gemalten Folterdetails zum Trotz – keineswegs aus den Fingern gesogen.

Matthäus erzählt gerade die Gründonnerstagszene von Getsemane wie aus dem Allerweltssterben gegriffen. Jesus kam dorthin in Begleitung von Petrus, Jakobus und Johannes. "Da ergriff ihn Angst und Traurigkeit, und er sagt zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir." Sich dem Tod zu weihen, ging der Todgeweihte noch ein paar Schritte. So beginnt der letzte, unvermeidliche Gang. Der, den jeder und jede zu gehen hat. Ganz alleine.

Zurückgekehrt, fand Jesus die Jünger eingenickt. "Da sagte er zu Petrus: Konntet ihr nicht einmal eine Stunde mit mir wachen?" Und wieder entfernte er sich. Wieder betete er bitterlich. "Als er zurückkam, fand er sie wieder schlafend, denn die Augen waren ihnen zugefallen." Und noch einmal zog er sich zurück ins immer gewisser Werdende.

Und noch einmal fand er sie schlafend. Sterben ist eine einsame – schlimmer: vereinsamende – Angelegenheit. Am Ende steht dann ein jeder und eine jede vor diesem einen Seufzer, den Markus und Matthäus von König David genommen und dem sterbenden Jesus am Kreuz in den Mund gelegt haben: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Sterbebegleiterinnen und Sterbebegleiter – unzählige solch unsagbar gute Menschen tun sich um am Rand dessen, worüber gerade noch oder gerade nicht mehr geredet werden kann – wissen, dass dieser Verzweiflungsruf zumeist nicht das Letzte ist. Denn durch die auffällige Sterbensunruhe dringt nämlich zunehmend auch der Friede; oder besser: ein Friede-gemacht-Haben; oder besser: ein Sich-Dreinfügen. "Vater", lässt Lukas Jesus schließlich rufen, "in deine Hände befehle ich meinen Geist."

Gottestod und Auferstehung

Der Gottestod und die Auferstehung ist das Kernstück christlicher Lehre: die Erlösung. Erlöst wurde – oder wird weiterhin – jeder einzelne Mensch, der ja sündig geboren wurde durch des Adam und der Eva Ungehorsam. Gott hat sie, nachdem sie verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis gekostet hatten, aus dem Garten Eden hinunter in dieses finstere Todesbangen des Garten Getsemane geworfen.

Paulus, seit seinem bekehrenden Damaskus-Erlebnis ein unentwegter Künder dessen, was wir in die Jesusgeschichte hinein- und also aus ihr herauslesen sollen, beschreibt den Gekreuzigten als einen zweiten Adam. Ihm verdanke sich die Enterbsündigung.

Die Karwoche ist wie ein phylogenetischer Schnelldurchlauf der manisch-depressiven Humanfisimatenzen: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.
Foto: APA / Barbara Gindl

Tatsächlich wird Jesus – das eben ist das christliche Ritual – gegessen. Er ist, gewissermaßen, die Frucht des zweiten verboten gewesenen Baumes, den Gott nach Vertreibung des Menschen streng hat bewachen lassen vorm Menschen. "Dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich."

Mit Jesus aber – so erzählt es die Ostergeschichte – bat oder bittet Gott beim Menschen um Entschuldigung für seinen einstigen Jähzorn. Ob die Menschen ihrem Schöpfer verzeihen, ist allerdings immer noch nicht geklärt. Ausschauen tut es jedenfalls nicht danach.

Leben im Verhängnis

Die im Alten Testament so plastisch geschilderte Vererbsündigung hat seit jeher zu Thomasreflexen geführt. Denn freilich ist es schwer zu vermitteln, dass schon das unschuldigste Kind voller Sünde sei. Ersetzt man das Wort Sünde allerdings durchs Wort Menschenlos – das darf man gerade bei der Erbsünde durchaus –, so trifft es zielgenau. Nicht allein das Sterben ist den Menschen ja aufgeladen. Sondern das quälende Wissen darum.

Der Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis beschreibt den finalen Schritt ins Menschsein hinüber. Über eine bloß semipermeable Grenze, die uns Siebeng’scheite von den bewusstseinsverschonten Tieren trennt. Die Erbsünde ist also das von Generation zu Generation weitergereichte Binkerl, das ein jeder und eine jede von uns zu tragen hat: das Leben im Verhängnis.

Die Freude des Ostersonntags

Am Karfreitag werden für gewöhnlich keine Spaßetteln gemacht. Am Ostertag schaut das anders aus. Da geht es ja ums Halleluja: dass keine Erbsünde mehr sei. In der Freude des Ostersonntags lag sogar der Keim für das neue europäische Theater, nachdem die augustinische Mieselsucht die antike Schaustellerei für Jahrhunderte als gottlos abgekanzelt hatte.

In den Osterspielen nahm das Theater gewissermaßen Anlauf. Spätestens im 12. Jahrhundert drang wieder die Lebensechtheit ins liturgische Schauspiel. Aus einem kurzen Satz des Markus ("Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Maria Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben.") fabulierten die Theatermacher eine immer bunter, teils ausufernd burlesk gefärbte Szene; die zum Begriff gewordene Krämerszene vorm Besuch der drei Marien am dann leeren Grab.

Das Osternachtsingen in dem Dörfchen, in dem ich daheim sein darf, nährt sich aus derselben Quelle: dem vom Frühling Jahr für Jahr aufs Neue befeuerten Lebensfrohsinn. "Es gingen", so singen die Männer nun schon in den bald dämmernden Sonntag hinein, "drei heilige Frauen einst, sie wollten das Grabe schauen ein." Wenn dann der Morgen graut, machen Frauen des Dörfchens sich tatsächlich auf den Weg. Sie schmücken die Marterln rund ums Dorf. Sie beten das Ihre. Sie tragen ihr Halleluja in den Frühling hinaus.

Die Männer sitzen da schon bei der Wirtin. Prosten ihr und einander zu. Wie immer. Und wie doch so ostersonntägig: "Soits leb’n!" (Wolfgang Weisgram, ALBUM, 16.4.2022)