Sie hat Führungen organisiert, Bücher publiziert, dissertiert, mehrere NGOs mitgegründet. Ein Leben für die moderne Architektur der ukrainischen Sowjetmoderne und ihren Erhalt. Dann musste die Architekturhistorikerin Ievgeniia Gubkina vor dem Krieg flüchten. Vorige Woche hielt sie in Wien auf Einladung der Initiative Claiming*Spaces der TU Wien und der IG Architektur einen Vortrag. DER STANDARD traf sie zum Gespräch.

STANDARD: Sie sind vor kurzem aus Ihrer Heimatstadt Charkiw nach Lettland geflüchtet. Wie waren die letzten Wochen für Sie?

Gubkina: Der ukrainische Politiker und Aktivist Juri Gudymenko, der gerade kämpft, sagte: "Der Atem der Geschichte weht jetzt in die Seiten der Bücher." Und er hat recht. Es ist ein tragisches Gefühl, wenn man sich im Atem der Geschichte wiederfindet. Ich sagte diesen Satz zu meinen Teenager-Nichten, mit denen ich flüchtete, und sie verstanden es sofort und sagten: Genau so fühlt es sich an. Wie ein reales Ding, das atmet und das unheimlich und viel zu groß ist.

Ein Schlag ins Herz: Der Derschprom-Komplex am Freiheitsplatz in Charkiw, gesehen durchs Fenster des von russischen Raketen zerstörten Regierungsgebäudes
Foto: Stanislav Ostrous

STANDARD: Hat Sie der Einmarsch überrascht?

Gubkina: Ich bin dieses Mal nicht in Tränen ausgebrochen, weil ich das schon vor acht Jahren getan habe. Als am 1.März 2014 der russische Föderationsrat die Armee zum Einmarsch in andere Staaten berechtigte, war mir klar, dass das Krieg bedeutet. Meine regimekritischen russischen Freunde sagten damals: Ach was, das sind doch nur Worte! Doch sie vergaßen die Kriege in Tschetschenien, Georgien und Syrien. Und sie glaubten die Worte nicht.

STANDARD: Sie halten dieser Tage Vorträge in Wien, Prag, Brno und Warschau über die Architekturgeschichte der ukrainischen Moderne. In einem langen Instagram-Post reflektierten Sie vorab darüber, warum man über Architektur reden kann, während Menschen umgebracht werden.

Gubkina: Wir denken, dass Kultur in diesen Zeiten nicht wichtig ist. Auch mir selbst ging das zeitweise so. Wenn man die Nachrichten aus Butscha liest, denkt man: Jetzt ist mir Kultur komplett egal. Das ist ein normaler Selbstschutzmechanismus. Aber es ist eine Illusion, dass wir die Wahl haben zwischen Kultur und Überleben, diese Entscheidung gibt es ja in der Realität nicht. Natürlich, eine Vortragsreise hält das Morden nicht auf. Aber wir müssen die Lage reflektieren, wir müssen weiterdenken. Eines Tages wird der Krieg vorbei sein, und worüber reden wir dann? Denn wenn wir dann keine Erklärungen haben für das, was passiert ist, wird es noch schmerzhafter sein.

STANDARD: Wie kann die Architekturgeschichte uns beim Verstehen helfen?

Gubkina: Die Psychologie nennt es Übergangsobjekte: Dinge, zu denen wir einen emotionalen Bezug herstellten. Das ist etwas, das jeder sofort begreift. Heute morgen zum Beispiel träumte ich von meinem Kleid, ein sehr schönes Designerkleid von BCBG Max Azria, das ich in Charkiw zurücklassen musste. Und ich war so wütend, weil ich es wirklich gerne bei mir hätte. Mit der Architektur ist es genauso.

STANDARD: In der Berichterstattung über den Krieg spielt Architektur eine Hauptrolle. Wir sehen Vorortvillen in Butscha, Plattenbauten in Mariupol, historistische Fassaden in Kiew. Auf absurde Weise erfahren wir so sehr viel über den Charakter dieser Städte, während dieser Charakter zerstört wird.

Gubkina: Aber in unserem Blick auf die Architekturgeschichte vergessen wir oft, dass all diese Gebäude eng mit dem Fleisch und Blut der Menschen verbunden sind, die in ihnen wohnen. Jeder Raketeneinschlag in ein Haus bedeutet, dass hier Menschen wohnten. Man könnte sogar sagen: Gebäude sind Menschen. Und ihre Zerstörung ist ein Nachweis, dass gemordet wird. Ich habe ein Video gesehen, auf dem Raketen in einen 70er-Jahre-Wohnblock in Charkiw einschlagen, und das war für mich nicht nur ein Schlag gegen alles, für das ich mich engagiere und das ich liebe, sondern auch wie ein Schlag gegen meinen eigenen Körper, ein physischer Schmerz.

STANDARD: In Ihrem Vortrag in Wien sagten Sie, dass die Regeln für Denkmalschutz und Kulturerbe nur für friedliche Zeiten konzipiert sind.

Gubkina: Institutionen wie die Uno und Unesco wirken jetzt sehr naiv in ihrem Optimismus. Ihre Schutzmechanismen kalkulieren mit freundlich gesinnten Menschen in demokratischen Gesellschaften in Friedenszeiten. Auf das, was jetzt passiert, haben sie keine Antwort. Es gibt auch keine, und das ist schwer zu akzeptieren. Man kann gegen die Zerstörung durch Bomben nichts ausrichten. ich habe mich von meiner Heimatstadt schon verabschiedet.

STANDARD: Wie ist die Situation in Charkiw derzeit?

Gubkina: Meine Tante hat sich entschieden zu bleiben. Sie sagte: Ich habe Kontrolle über mein Leben, weil ich frei entscheiden kann, mit welcher Waffe ich umgebracht werde. Denn die Waffen der Angreifer korrelieren mit den Stadtbezirken und der Topografie der Stadt. Es ist wie ein Stadtplanungsbüro, in dem der Chef sagt: Heute kümmern wir uns um Krankenhäuser. Aber nicht um das Bauen, sondern um das Zerstören. Es ist Stadtplanung im Rückwärtsgang, es ist Antiarchitektur. Und sie ist systematisch geplant.

STANDARD: Werden bestimmte Gebäude aufgrund ihrer Typologie oder ihrer Symbolik zu ausgesuchten Zielen der russischen Angreifer?

Der Derschprom-Komplex vor dem Zweiten Weltkrieg
Foto: Bild- und Tonarchiv der Ukraine

Gubkina: Funktion und Symbolismus sind oft dasselbe. Sie haben die Gedenkstätten Babyn Yar in Kiew und Drobytsky Yar in Charkiw angegriffen und dort die Menora zerstört. Vielleicht war es für die jungen Soldaten wie ein Computerspiel, oder vielleicht sind sie Antisemiten. Sie haben auch den Gedenkort für die getöteten polnischen Offiziere im Zweiten Weltkrieg angegriffen und das für die Soldaten der Roten Armee. Also sehr wahllos. Mein enger Freund, der Historiker Jaroslav Perekhodka, war bei der Befreiung von Butscha dabei und sagte: Das ist historisches Material für die nächsten hundert Jahre. Das wird in unseren Schulbüchern stehen.

STANDARD: Sie haben sich intensiv mit der sowjetischen Moderne beschäftigt. Eine Ära, deren neue Popularität sich in vielen Coffee-Table-Books zeigt. In den letzten Wochen wurde in Bezug auf den Krieg der Begriff "Westsplaining" geprägt für westliche Kommentatoren, die besserwisserisch und halbinformiert über die Ukraine urteilen. Ist unser Blick von außen auf die Architektur ähnlich kolonialistisch?

Gubkina: Es gibt ein grundsätzliches Missverständnis, wenn Architektur wie Kunstgeschichte behandelt wird – als reine Abfolge von Stilen. Man muss die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe kennen, erst recht, wenn es ums 20. Jahrhundert geht. Der Blick auf die Sowjetunion war immer sehr vereinfacht: ein Anführer, eine starke Hierarchie, das Reich des Bösen. Aber es gab 15 Sowjetrepubliken, und jede hatte ihre eigene Architekturgeschichte. Auch die Kunst jener Zeit wird heute belächelt und als ikonischer Kitsch reproduziert. Heroische Arbeiter und Erntearbeiterinnen, so lustig! Aber dieser Kitsch war nicht lustig, er hatte einen Sinn und Zweck. Er hat viele Projekte verhindert und Biografien zerstört.

STANDARD: Sie beschäftigen sich besonders mit dem Konstruktivismus der 1920er-Jahre, beispielsweise dem Derschprom-Komplex in Charkiw. Welche Rolle spielt diese Zeit im Spannungsfeld zwischen russischer und ukrainischer Sowjet-Architektur?

Gubkina: Ich habe dort viele Führungen geleitet, und die Leute wurden immer sehr emotional. Sie haben geweint vor Ergriffenheit! Sie wollten imperiale Architektur sehen, weil sie sich dann als Teil von etwas Großem fühlen konnten. Dann erzählte ich ihnen von der neuen Wirtschaftspolitik der 1920er und der Industrie in der Ukraine. Davon, dass die Planer damals nicht aus dem Mittelalter waren, denn sie hatten Budgets, Organisation, Gefühle. Aber das hat die Zuhörer nicht interessiert. Sie wollten Stalin, sie wollten das Grandiose, und jede zusätzliche Information macht das Grandiose kleiner. Aber kleine Geschichten sind wahrhaftiger, und wenn man genauer hinschaut, sind sie auch gar nicht so klein. Wie bei David und Goliath. Die Davids sind viel interessanter als die Goliaths!

STANDARD: Als der Konstruktivismus 1932 in Ungnade fiel, wurde er von Stalins Regime als "linke, internationale Architektur" gebrandmarkt. Eine interessante Wortwahl für einen sozialistischen Staat. War "international" damals ein Code für "jüdisch"?

Gubkina: Wenn wir über Architekten in der Ukraine reden, dann meinen wir meistens jüdische Architekten. Wir Ukrainer sind alle teilweise jüdisch. Diese tiefe historische Verbindung ist vielen nicht bewusst. Es gab in den 1930er-Jahre eine erste Welle des sowjetischen Antisemitismus und eine zweite gegen Ende der 1940er, als Stalin schon sehr paranoid war. Der Architekt Joseph Karakis durfte nicht mehr arbeiten, und Yakiv Steinberg, ein großartiger Theoretiker linker Architektur und genialer Architekt des ZK-Gebäudes in Charkiw, musste sich öffentlich selbst bezichtigen. Stalins Antimodernismus und Antisemitismus gehören zusammen.

Architektin, Architekturhistorikerin, Aktivistin: Ievgeniia Gubkina
Foto: Pavel Dorogy

STANDARD: Stalin propagierte ab den 1930er-Jahren den sozialistischen Realismus, auch Zuckerbäckerstil genannt. Eine antimoderne Architektur?

Gubkina: Für viele Russen von heute hat der Kampf mit anderen großen Nationen nie aufgehört. Deshalb ist der Internationalismus für sie immer noch etwas Gefährliches. Der sozialistische Realismus wurde bekannterweise offiziell als "national in der Form und sozialistisch im Inhalt" beschrieben. Eine sehr seltsame Formulierung, die eigentlich keinen Sinn ergibt und die damals auch niemand verstand. Es waren auch nicht die hellsten Köpfe unter den Architekten und Intellektuellen, die sich das ausdachten. Aber diese Widersprüchlichkeit eröffnete ihnen den Raum für Manipulationen.

STANDARD: Sie hatten Ihren Charkiw-Architekturführer gerade fertiggestellt, als der Krieg begann. Was passiert jetzt mit dem Buch?

Gubkina: Das Buch hat eine lange Geschichte. Während der Maidan-Revolution, in einer sehr emotionalen Zeit, schrieb ich einen Führer über Slavutych, die neue Stadt für die Bewohner von Tschernobyl. Ich bemühte mich, es sehr leicht lesbar zu machen, es war geradezu "Pop". gleichzeitig streute ich für die Leser viele kleine Hinweise auf politische Ereignisse ein, etwa den Schwarzen Januar 1990, als Gorbatschows Panzer in Baku auf Zivilisten schossen. Danach schrieb ich weitere Bücher, und mein Charkiw-Buch wartete im Hintergrund. Im Dezember 2021 beschloss ich, es endlich fertigzustellen. Dann kam der Krieg. Etwa die Hälfte der Gebäude im Buch sind heute zerstört oder beschädigt. Jetzt haben der Verlag und ich beschlossen, dass die Realität des Krieges unbedingt in dieses Buch hineinmuss. Die SMS-Nachrichten von Freunden aus den ersten Tagen des Krieges. Die Geschichten von Menschen, die in diesen Gebäuden starben. Wir brauchen neue Arten von Büchern.

STANDARD: Architekturbücher mit mehr Emotionen?

Gubkina: Emotionen sind Teil meiner Arbeit. Nicht um mit ihnen zu manipulieren, sondern aus Verantwortung gegenüber der Realität. Wir zensieren uns viel zu oft selbst. An einer deutschen Universität wurde kürzlich diskutiert, ob man ukrainische Wissenschafter zu einem Panel einlädt, und jemand sagte: Vielleicht warten wir noch zwei, drei Jahre, denn die Ukrainer sind doch jetzt viel zu emotional.

STANDARD: Eine Logik, die man von Vergewaltigungen kennt: "Die Frau ist traumatisiert, also glauben wir ihr erst mal nicht."

Gubkina: Genau. Ich habe auch von der feministischen Theorie gelernt, dass es legitim ist, die Rhetorik von Menschenrechtsaktivisten in die Wissenschaft zu integrieren. Emotionales Material ist wichtig. Das Leben, die Objekte, die Emotionen, das hat miteinander zu tun. Ich bin ich, und meine Emotionen sind wichtig. Sie sind sogar sehr erlesen und ziemlich schön!

STANDARD: Manche Ihrer Freunde sind in Charkiw geblieben. Pavel Dorogoy, der für Ihr Buch die Gebäude fotografiert hat, und die Konservatorin Kateryna Kublytska dokumentieren jetzt die Zerstörung der historischen Bausubstanz.

Gubkina: Auf der Flucht nach Lettland hatte ich das Gefühle, meine Handlungsmacht zu verlieren. Ich war das passive Objekt von anderer Leute Hilfe. Mir wurde klar, dass das mit Würde zu tun hat. Würde heißt, eine Wahl zu haben. Meine Freunde haben die sehr schwere Wahl getroffen, Helden zu sein. Helden des Denkmalschutzes, Helden der Architektur in einer Zeit der atmenden Geschichte.

STANDARD: Was ist Ihre Rolle? Was kann man aus der Distanz, aus dem Exil für Charkiw tun?

Gubkina: Für den konkreten Schutz der Gebäude kann ich nichts tun. Das war schwer zu akzeptieren. Muss ich alle verschwundenen Bauten zählen? Ich weiß nicht. Muss ich sie dokumentieren? Vielleicht. Aber vor allem sollte ich versuchen, zu begreifen, was passiert. Mit mir, mit der Ukraine, mit der Gesellschaft, mit der Architektur. Ich bin nicht dort. Ich bin keine Heldin. Ich denke nur nach. Das ist vielleicht kein großartiger Job während eines Krieges, aber jemand muss es tun. Irgendwer muss nachdenken. (Maik Novotny, 17.4.2022)