Bluten für die Liebe: Andreas Schager als Tristan, Martina Serafin als Isolde.

Pöhn

Seit Lars von Triers Melancholia ist es unvermeidlich, beim Vorspiel zu Wagners Tristan und Isolde an den Weltuntergang zu denken. Umgarnt von den jauchzend sich aufschaukelnden Orchesterlinien rast in Triers Film ein Planet auf die Erde zu, um ihr den Tod zu bereiten. Mit dieser Filmassoziation ist man an der Staatsoper weder weit von Wagner entfernt noch von den Regieideen Calixto Bieitos.

Auch in dieser Oper der ausbrechenden Musikmoderne geht es um Tod. Und auch für Bieito ist das Thema zentral. Natürlich bereitet das Ende hier keine von außen kommende Bedrohung. Es ist eine im Figureninneren tobende Besessenheit; Tristan und Isolde sind zwei glühende Planeten, die aufeinander sehnsüchtig zurasen, um einander zu zerstören.

Er fackelt nicht

Mit der schmerzhaft-prunkvollen Bilderopulenz von Triers Melancholia hat Bieitos Theater optisch nichts zu tun. Wenn schon, wäre eher an Triers minimalistisch dekoriertes Drama Dogville zu denken. Bieito fokussiert sich auf das dichte Ausgestalten der zwei Hauptfiguren, er fackelt dabei nicht lange herum: Er lässt die Besessenheit des Schmerzenspaares bereits vor der Einnahme des Zaubertranks ausbrechen.

Isolde, die von Tristan gerade zu ihrem zukünftigen Gemahl König Marke verschifft wird, ist auch keine in sich ruhende Liebende. Auf dem Wasserboden – inmitten von Schaukeln, auf denen Kinder sitzen – rast sie zwischen Selbsthass und Begehren. Sie packt den Kopf ihrer besorgten Dienerin Brangäne (vokal solide, gestalterisch differenziert: Ekaterina Gubanova), als wollte sie ihn zermalmen. In ihrem Wutmonolog umarmt sie dann auch einen stummen Tristan. Bieito serviert ihn Isolde – quasi als fleischgewordene Fantasie.

Die Unerreichbaren

Auch mit dem "realen" Auftritt Tristans gibt es jedoch für diese selbstzerstörerische Leidensliebe keine Erlösung: Im zweiten Akt wüten und toben die beiden getrennt voneinander in zwei schwebenden Räumen (Bühnenbild: Rebecca Ringst). Während dieser Szene der Unerreichbarkeit des Anderen zerlegen sie Mobiliar, Wände und ihre Kleidung. Das wirkt da und dort ein bisschen aufgesetzt, wenn Tristan etwa mit der Lampe fuchtelt ...

Bieito lässt dieses zerstörerische Übermaß an Empfindungen im Großen und Ganzen aber fulminant in einer Selbstverletzung des durchdrehenden Helden münden. Statt Melot (klar und impulsiv: Clemens Unterreiner) fügt Tristan sich selbst die Wunde zu, als wollte er sein Begehren wie ein Alien aus sich herausschneiden. Isolde bemerkt die Selbstverstümmelung und will folgen. Bevor König Marke sein Klagelied (zunächst ungewohnt fragil: René Pape) gegen Tristan richtet, verhindern jedoch zwei Kinder, dass sich Isolde die Pulsadern aufschneidet.

Nacktes Kollektiv

Es ist offensichtlich: Hier sehnen sich zwei um Kopf und Kragen, wollen in eine andere Sphäre hinübersterben, wo sich ihre Qualen in Zweisamkeit auflösen. Der Höhepunkt der Leiden ist in der "Werkmitte" natürlich noch nicht erreicht: Im dritten Akt, den Bieito mit einem nackten Kollektiv verziert, dessen Pärchen zu Liebesskulpturen verschmelzen, erklimmt Andreas Schager als Tristan den Gipfel an intensiver Darstellungskunst, die ohne seinen strahlenden Tenor natürlich nicht glaubhaft wäre. Schager zeigt: Bieitos Arbeit ist am stärksten dort, wo sie innere Schmerzen konsequent in körperlich vermittelte Unmittelbarkeit verwandelt.

Schager, bis auf Sekundenmomente der Ermüdung, geht bewundernswert bis zur Selbstentäußerung. Ob er im Delirium seinen Kurwenal (steigert sich zu packender Dramatik: Iain Paterson) zu erwürgen droht oder blutend vor Isolde todeserschöpft niedersinkt: Er bleibt vokal überragend und agiert bezüglich Intensität auf Augenhöhe mit Isolde. Martina Serafin meistert die ewige vokale Zumutung mit charaktervollem, angeschärftem Timbre. Aus ihrer differenzierten Rollengestaltung leuchten neben wuchtigem Drama auch intim-zarte Linien hervor, die zum Schluss hin allerdings in einen vokalen Kampf münden. Beim Liebestod schienen die Kräfte zu schwinden.

Um Nuancen zu laut

Der demonstrativ akklamierte Musikdirektor Philippe Jordan animiert das fulminante und impulsive Staatsopernorchester zu glühender und zugleich differenzierter Diktion. Auch wenn das Orchester hier ein Hauptdarsteller ist, hätte man den Stimmen an mancher Stelle gewünscht, nicht mit derart großer Dezibelfreude konfrontiert zu sein. Orchestral eine Nuance zurückhaltender zu agieren hätte das instrumentale Charisma sicher nicht minimiert, den Sängerinnen und Sängern jedoch mehr Gestaltungsfreiheit gegeben – und weniger "Überlebenskampf".

Nach dem ersten Akt gab es ein grobes Buh. Nach dem zweiten Akt waren es gefühlte drei Brüller, bis es am Schluss zum Infight zwischen deutlichem Unmut und heftigem Zuspruch für die Geschichte einer Besessenheit kam. Wunderbar. Die Staatsoper durchwehte ein Hauch von zeitgemäßer Opernnormalität – befeuert von einer spannenden Regie. (Ljubiša Tošić, 15.4.2022)