Völkerrechtler Wolfgang Benedek schreibt in seinem Gastkommentar über seine Erkenntnisse bei der Untersuchung von etwaigen Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine.

Der 1991 beschlossene Moskau-Mechanismus der OSZE erlaubt es, ohne das sonst übliche Konsensprinzip eine Untersuchung einer Frage bezüglich der menschlichen Dimension der OSZE auf dem Gebiet eines Mitgliedsstaates durchzuführen. Im konkreten Fall lud die Ukraine mit Unterstützung von 45 OSZE-Staaten zu einer Untersuchung von Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte auf ihrem Territorium ein. Zu diesem Zweck wurde eine Mission von drei Experten aus der Schweiz, Tschechien und Österreich eingerichtet, die nach den Regeln des Moskau-Mechanismus innerhalb von drei Wochen einen Bericht vorzulegen hatten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Vor beiden Seiten des Gebäudes war auf dem Boden das Wort "Kinder" auf Russisch gemalt worden. Es nutzte nichts: Bei einem russischen Angriff Ende März wurde ein Theater in Mariupol zerstört. Ukrainische Behörden gingen von rund dreihundert Toten aus.
Foto: Reuters

Angesichts der laufenden Kampfhandlungen konnte die unter meinem Vorsitz stehende Mission keine Untersuchungen vor Ort durchführen. Sie musste die behaupteten Verletzungen daher über Kontakte und Informationen überprüfen, die von außerhalb der Ukraine zugänglich waren. Diese Herausforderung konnte jedoch gemeistert werden, da die Mission sowohl vonseiten der ukrainischen Regierung als auch von internationalen Organisationen sowie von ukrainischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und weiteren Personen vor Ort, von auf die Überprüfung von Fakten spezialisierten NGOs sowie von Investigativmedien eine Fülle von Informationen und Berichten erhielt, aus denen sich nach einem sorgfältigen Abgleichen ein weitgehend klares Bild der Ereignisse ergab.

Große Zahl an zerstörten Spitälern

Auch wenn die große Zahl von behaupteten Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte nur in Einzelfällen überprüft werden konnte, zeigte sich doch ein klares Muster von Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch die russischen Streitkräfte. Hätten diese die Grundsätze der Unterscheidung, Verhältnismäßigkeit und Rücksichtnahme beachtet, wären die Opfer in der Zivilbevölkerung und die Zerstörungen wesentlich geringer ausgefallen. Dies bedeutet, dass wesentlich weniger Gebäude, Gesundheitseinrichtungen, Kulturgüter, Schulen, Wohnhäuser und Infrastruktur zerstört oder beschädigt worden wären. Besonders gravierend war die Zerstörung oder Beschädigung von einer großen Zahl von Spitälern und anderen Gesundheitseinrichtungen, die sehr gut dokumentiert ist.

"Das Verhalten der russischen Streitkräfte in den besetzten Gebieten verletzte in vielfältiger Weise die Verpflichtungen einer Besatzungsmacht."

Auch die Verwendung von Waffen und Munition, etwa Streumunition, die besonders hohe Opfer in der Zivilbevölkerung hervorrufen, wurde festgestellt. So kam die Expertenmission etwa im Gegensatz zu den russischen Behauptungen zu dem Ergebnis, dass die weitgehende Zerstörung der Geburtsklinik sowie des auf beiden Seiten mit der Aufschrift "Kinder" gekennzeichneten Theaters in Mariupol, in dem hunderte Schutzsuchende ums Leben kamen, sehr wohl auf russische Bombardierung zurückzuführen sei.

Das Verhalten der russischen Streitkräfte in den besetzten Gebieten verletzte in vielfältiger Weise die Verpflichtungen einer Besatzungsmacht. Zwar wurden auch Verletzungen auf ukrainischer Seite etwa hinsichtlich der anfänglichen Behandlung von Kriegsgefangenen festgestellt, doch sind diese in Umfang und Schwere mit den russischen Verletzungen nicht vergleichbar.

"Es gab gezielte Tötungen von Zivilisten, Verschwindenlassen von Amtsträgern, Deportationen und Vergewaltigungen."

Hinsichtlich der Gebiete unter russischer Kontrolle wurden auch glaubhafte Nachweise für umfangreiche und schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte, etwa des Rechts auf Leben, des Folterverbots sowie des Verbots unmenschlicher Behandlung gefunden. Es gab gezielte Tötungen von Zivilisten, Verschwindenlassen von Amtsträgern, Deportationen und Vergewaltigungen. Vulnerable Personen wie Kinder, alte Menschen oder Behinderte waren besonders betroffen. Eine Reihe von besonders zu schützenden Journalistinnen und Journalisten wurde bei ihrer Arbeit getötet, entführt oder verletzt.

Die Ereignisse in Butscha und anderen Vororten von Kiew konnten nicht mehr untersucht werden. Sollten sich die diesbezüglichen Nachrichten bestätigen, würde es sich nach Meinung der Expertenmission um schwerwiegende Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit handeln. Zur Klärung bedarf es jedoch einer internationalen Untersuchung mithilfe forensischer Experten. Der 94-seitige Bericht enthält auch einen Überblick über bestehende Mechanismen zur Feststellung der Verantwortlichkeit, um eine Straflosigkeit der Täter zu verhindern. Der Bericht will dazu einen Beitrag leisten.

Isoliertes Russland

Die Entscheidung über eine individuelle Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen liegt jedoch beim Internationalen Strafgerichtshof sowie nationalen Gerichten, wobei aufgrund des Universalitätsprinzips auch Gerichten nichtbeteiligter Staaten eine Zuständigkeit zukommen kann. Bei seiner Präsentation und Diskussion im Permanenten Rat der OSZE in Wien war Russland isoliert. Nur Belarus kam ihm zur Hilfe.

Der Bericht stellt nun die erste umfassende Untersuchung der Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte durch die russische Aggression gegen die Ukraine dar. Sein Anliegen wird durch die Arbeit weiterer Untersuchungskommissionen, wie etwa einer bereits durch den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eingerichteten Untersuchungskommission, die ihren Sitz in Wien haben wird, weitergeführt werden müssen. (Wolfgang Benedek, 16.4.2022)