Das Tribunal in Den Haag

Foto: Imago / Hollandse Hoogte / Remko de Waal

Was ist uns Gerechtigkeit wert? Rund 162 Millionen Euro hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag für das aktuelle Jahr an Budget zur Verfügung. Viel Geld freilich, aber gut investiertes, oder?

Immerhin soll das Gericht nichts weniger leisten, als die schlimmsten Verbrechen unserer Zeit zu untersuchen und zu verurteilen. Ein entschiedener, wenngleich oft mühevoller Kampf gegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression in aller Welt. Wer könnte das nicht befürworten?

70 von 193 Uno-Staaten – um exakt zu sein. 70 Staaten, die rund 70 Prozent der Weltbevölkerung auf sich vereinen – haben das Römische Statut von 1998 nicht unterzeichnet und respektieren damit die Rechtsprechung des IStGH nicht oder nur in den seltensten Fällen.

Das und die schwierige Beweisbarkeit direkter Verantwortung führten dazu, dass aus 27 Konflikten, mit denen sich das Gericht bisher in den 20 Jahren seines Bestehens beschäftigte, insgesamt nicht einmal 30 Jahre an rechtskräftiger Gesamtstrafdauer für die Verurteilten resultierten. Fast 100 Millionen Euro pro Strafjahr also. Da zücken einige Kosten-Nutzen-Rechnerinnen zu Recht die Taschenrechner.

Kritik und mangelnde Kooperation

Neben der ausgedehnten Verfahrenslänge sorgen die Kosten immer wieder für heftige Kritik. Auch dass im ersten Jahrzehnt ausschließlich Fälle in Afrika untersucht wurden, brachte dem Gericht den Ruf eines neokolonialen Erziehungsinstruments ein. Am schmerzhaftesten ist aber immer noch, dass so viele Staaten nicht bereit sind, bei der Verfolgung von Gräueltaten mitzumachen, und die Arbeit des Gerichts damit torpedieren. Aus Sorge, dass es sie eines Tages selbst treffen könnte?

Russland ist einer dieser Staaten. China und die USA ebenso. Die USA haben kurz nach der feierlichen Eröffnung des Strafgerichtshofs 2002 mit dem American Service-Members’ Protection Act gar ein Gesetz verabschiedet, wonach der US-Präsident Maßnahmen ergreifen darf, um US-Bürger vor Strafverfolgung durch den IStGH zu schützen und sie notfalls mit Waffengewalt aus dessen Haft zu befreien.

Eine Zelle für Kriegsverbrecher von innen: Manchmal dauern die komplizierten Verfahren vor dem IStGH so lange, dass Kriegsverbrecher vor den Urteilen versterben.
Foto: Courtesy of the ICTY

Schwierige Startbedingungen also für eine Institution, die den Verlauf der Geschichte befrieden sollte. Schon in der Zwischenkriegszeit und nach 1945 hatte man um die Erschaffung eines Weltstrafgerichts, das einzelne Menschen für ihre Gräueltaten verurteilt, gerungen. Dass es um die Jahrtausendwende letztlich trotz Ablehnung bedeutender Staaten dennoch klappte, das Gericht einzusetzen, ist für Cuno Tarfusser, Ex-Vizepräsident und Ex-Richter am IStGH, nach wie vor "ein Wunder".

Russisches Njet

Bis dahin hatte die Welt bei den größten Verbrechen auf Militärgerichtshöfe, wie in den Nürnberger Prozessen, oder Sondertribunale, wie jene für Ruanda und Jugoslawien, setzen müssen. Letztere wurden per UN-Sicherheitsratsbeschluss eingesetzt.

Russische und chinesische Vetos – die bis heute etwa Untersuchungen des syrischen Bürgerkriegs unterbinden – hätten theoretisch also auch die späteren Urteile gegen serbische Kriegsverbrecher wie Ratko Mladić und Radovan Karadžić abwürgen können. Das russische Njet würde freilich auch bei einem Sondertribunal für die Ukraine warten. Braucht es aber gar nicht, denn mittlerweile gibt es ja den IStGH.

Weil das Nichtmitglied Ukraine seit dem Donbass-Krieg und der Maidan-Bewegung 2014 die Rechtsprechung des IStGH auf seinem Boden akzeptiert und dutzende Staaten den Gerichtshof mit der Bitte um Ermittlungen angerufen haben, kann der britische Chefankläger Karim Khan mit seinem Team arbeiten.

Präzise Dokumentation

Wer in der Ukraine also im großen Stile Zivilbevölkerung ermordet, vergewaltigt oder foltert, Befehle dazu ausgibt oder auch nur wissentlich davor zurückscheut, solche Taten als Befehlshaber zu unterbinden, riskiert einen Haftbefehl vom IStGH – was uns zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin, seinen Generälen und Soldaten bringt.

Das Smartphone-Zeitalter und eine zu mehr als 85 Prozent ans Internet angeschlossene Gesellschaft, aber auch moderne Satellitenbilder machen den Krieg in der Ukraine zum bislang bestdokumentierten der Geschichte.

Viele Völkerrechtlerinnen und Strafgerichtshofexperten wie Tarfusser gehen deshalb davon aus, dass die Beweisfindung für eine etwaige Anklage am IStGH nicht allzu schwierig werden dürfte – zu brutale und eindeutige Videos zeigten den Beschuss von Krankenhäusern oder Bahnhöfen, zu präzise sind die Hinrichtungen in Kiewer Vororten wie Butscha oder Irpin dokumentiert.

Prominente Kriegsverbrecher

Dass es sich in der Ukraine nicht um ein Bürgerkriegsland handelt und so zumindest eine Seite im Konflikt ein Interesse hat, den Ermittlern möglichst breiten Zugang zu allen Tatorten zu geben, hilft. Viele rechnen mit ersten Haftbefehlen noch in diesem Jahr, die alle 123 Mitgliedsstaaten theoretisch umsetzen müssten, sobald ein gesuchter Kriegsverbrecher deren Boden betritt.

DER STANDARD

Heißt das nun, dass Putin unweigerlich bald seinen Lebensmittelpunkt nach Den Haag, in eine der 15 Quadratmeter großen 84 Einzelzellen der United Nations Detention Unit verlegen muss? Ein Blick auf die Geschichte prominenter Kriegsverbrecher bestätigt dies eher nicht.

  • Omar al-Bashir, der den Sudan von 1989 bis zu seinem Sturz 2019 als autoritärer Staatspräsident regierte, war das erste amtierende Staatsoberhaupt, gegen das der IStGH Haftbefehle ausstellte. Gleich zwei sogar: einen 2009 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie 2010 einen wegen Völkermordes. Beide für seine Rolle im Darfur-Konflikt, wo er für die Tötung, Verstümmelung und Folter hunderttausender Menschen verantwortlich gemacht wird.
    2019 bestätigte der Gerichtshof, dass ihn auch seine Immunität als höchster Mann im Staat nicht vor Strafverfolgung geschützt hätte. Das sind auch schlechte Nachrichten für Putin. Doch zeigt der Fall al-Bashir, dass eine Auslieferung auch nach einem Regimewechsel keine ausgemachte Sache ist. Als die damalige Regierung 2020 erstmals zusagte, mit dem IStGH zusammenzuarbeiten, schlossen Medien weltweit auf al-Bashirs baldige Auslieferung. Es fehlte aber die Zustimmung des vom Militär dominierten Souveränen Rats – und der regiert mittlerweile wieder allein.
    Wie genau die Kooperation aussehen sollte, war jedoch stets unklar. Eine IStGH-Dependance im Sudan oder ein hybrides IStGH-sudanesisches Gericht standen im Raum. Möglich ist, dass die Junta mit einem Todesurteil versucht, selbst Fakten zu schaffen.
  • Saif al-Islam al-Gaddafi ist der lebende Beweis dafür, dass jahrelang per Haftbefehl gesuchte Kriegsverbrecher sogar zu Präsidentschaftswahlen antreten dürfen, sofern diese wie geplant 2021 stattgefunden hätten. Nach dem zweitältesten Sohn des libyschen Ex-Diktators Muammar al-Gaddafi wird seit 2011, dem Umsturz- und Todesjahr seines Vaters, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefahndet. Dabei war sein Aufenthaltsort spätestens seit der Festnahme durch Zintan-Milizen Ende 2011 meist bekannt.
    Die Übergangsregierung wollte al-Gaddafi, der während der Revolution mit den Worten "Flüsse voller Blut werden durch alle Städte Libyens fließen" auffiel, aber nicht nach Den Haag ausliefern, sondern selbst gegen ihn prozessieren. Und der IStGH soll tatsächlich nur solche Prozesse aufnehmen, die ein Mitgliedsstaat nicht selbst führen kann oder will. Der Todesstrafe nach seiner Verurteilung durch Milizen des Neuen Allgemeinen Nationalkongresses – unter anderem für die Anstiftung zu Mord und Vergewaltigung – entkam er, weil ihn die Zintan-Rebellen nicht nach Tripolis überstellten.
    Seiner Entlassung 2017 folgte im November 2021 ein Haftbefehl des libyschen Generalstaatsanwalts. Solange er von mächtigen Gruppen gestützt wird, bleibt die Auslieferung nach Den Haag also sein kleinstes Problem – was gute News für Putin sind.
  • Thomas Lubanga, der erste vom Strafgerichtshof verurteilte Kriegsverbrecher überhaupt, und Germain Katanga, ebenfalls ein Milizenanführer aus der Demokratischen Republik Kongo, zeigen die Wirksamkeit des IStGH. Katanga wurde für die Lieferung von Waffen, mit denen 200 Menschen massakriert wurden, verurteilt. Neben der Rekrutierung von Kindersoldaten wurden beide aber auch für den Einsatz von sexueller Gewalt als Kriegswaffe verurteilt – eine grausame Art des Krieges, die auch in der Ukraine immer wieder zu beobachten ist. (Fabian Sommavilla, 16.4.2022)