Sucht noch nach seiner Rolle: Kanzler Karl Nehammer (ÖVP).

Foto: APA / Georg Hochmuth

Die Gegensätze beim Termin in Moskau hätten größer nicht sein können. Auf der einen Seite Wladimir Putin, ein Despot, ehemaliger Geheimdienstkader und seit Jahrzehnten unumschränkter Herrscher in Russland. Auf der anderen Karl Nehammer, seit fünf Monaten Regierungschef in Österreich, der in der Affäre um zwei betrunkene Personenschützer schon einmal die Fassung verliert.

Nehammer war bisher viel, nur kein Politiker der starken Töne. Der 49-Jährige fand sich über Jahre weniger als Macher in der ersten Reihe wieder, sondern stellte sich eher ausführend in den Dienst der ÖVP. Sozialisiert wurde er zwar im Machtkosmos Niederösterreich, besetzte aber lange keine wirklich stilprägenden Positionen.

Licht und Schatten

Nehammer führte ein paar Jahre die niederösterreichische Parteiakademie, beim schwarzen Arbeitnehmerbund diente er im Generalsekretariat. Ein Amt, das er später auch für Sebastian Kurz in der Bundes-ÖVP ausfüllte. Zum innersten Zirkel des einst alleinherrschenden Altkanzlers zählte Nehammer aber nie.

In die Rolle des aktiven Politikers stieg Nehammer erst 2017 als Nationalratsabgeordneter ein. Drei Jahre später wurde er Innenminister. Als Kurz über Chats stolperte, war Nehammer plötzlich Kanzler – und damit selbst Galionsfigur, die Ton und Richtung angibt (nur nicht den schwarzen Landesfürsten).

In die Rolle des aktiven Politikers stieg Nehammer erst 2017 als Nationalratsabgeordneter ein.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Seither scheint Nehammer auf der Suche nach seiner eigenständigen Rolle zu sein, in die wohl auch der Russland-Besuch fällt. In der türkis-grünen Koalition gilt er nach der Kurz-Episode als Stimmungsaufheller. Seine Zeit als Spitzenpolitiker hatte aber auch Schattenseiten.

  • Wahlkampfkosten
    Im Jahr 2019 überschritt die ÖVP bewusst die Kosten für den Wahlkampf. Für diese Recherche klagte die ÖVP den Falter, blitzte damit aber vor dem Obersten Gerichtshof ab. Damals war Karl Nehammer Generalsekretär der Türkisen. Die Abrechnung der ÖVP aus der Zeit liegt bis heute nicht vor.

  • Anschlagspannen
    Durch Behördenfehler konnte der Terroranschlag in Wien am 2. November 2020 nicht verhindert werden. Nehammer war damals zwar noch nicht lange Innenminister, aber für den Apparat verantwortlich. Anfänglich versuchte er, der Justiz die Schuld zuzuschieben, und die Expertenkommission, die sich mit den Pannen beschäftigte, wurde nur lückenhaft informiert. Es zeigte sich aber, dass im Vorfeld nicht nur der Informationsfluss im Verfassungsschutz stockte, sondern auch in die Razzien gegen angebliche Muslimbrüder eine Woche später so viele Ressourcen flossen, dass der Attentäter zur Nebensache wurde – mit fatalen Folgen. Jene Razzien inszenierte Nehammer bewusst martialisch. Eineinhalb Jahre später steht in der Causa jeglicher Erfolg aus. In einigen Fällen wurde die Operation bereits für rechtswidrig erklärt.

  • Türkise Loyalitäten
    Erst kürzlich entzog die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) der in der Ibiza-Affäre tätigen Soko Tape alle Ermittlungsaufträge. Die WKStA hält die polizeiliche Sonderkommission für "massiv befangen". Der Grund dafür waren Chatnachrichten, die den Eindruck erwecken, als habe sich Ex-Soko-Leiter Andreas Holzer vom mittlerweile suspendierten Justizsektionschef Christian Pilnacek sowie von Hans Fuchs, Leiter der Oberstaatsanwaltschaft (OStA) Wien, einspannen lassen. Und zwar damit seine Struktur die WKStA observiert, um eine angeblich undichte Stelle ausfindig zu machen. Erst vor etwa einem Jahr wurde Holzer von Nehammer zum Direktor des Bundeskriminalamts befördert. Im monatelangen Streit zwischen der Soko Tape und der WKStA blieb Nehammer unsichtbar und ließ die polizeilichen Ermittler machen. Vom Fund des Ibiza-Videos erfuhr die WKStA quasi aus den Medien. Auch beim Neubau des Verfassungsschutzes kamen an der Spitze Beamte zum Zug, die klar der ÖVP nahestehen.

  • Der Fall Tina
    Die Abschiebung eines minderjährigen Mädchens aus Georgien, das viele Jahre in Österreich lebte, löste vor einem Jahr eine Koalitionskrise aus. Nehammer blieb hart und sprach von "Amtsmissbrauch", hätte er ihre Abschiebung gestoppt. Die Grünen fügten sich. Monate später befand das Bundesverwaltungsgericht die Abschiebung für rechtswidrig, stellte das Kindeswohl und die soziale Verwurzelung über das Verhalten der Mutter, die sich mehrfach einer Abschiebung entzogen hatte. Das Urteil ist noch anfechtbar.

  • Cobra-Gate
    Am Anfang standen zwei betrunkene Personenschützer der Kanzlerfamilie, die Mitte März beim Ausparken einen Unfall bauten. Dazu kam ein anonymes Schreiben, in dem den Nehammers vorgeworfen wird, die Cobra-Beamten für Familienangelegenheiten verwendet zu haben, aber auch dass die Personenschützer mit der Ehefrau des Kanzlers angestoßen hätten. Nehammer sprach von "glatten Lügen". Mittlerweile stellen sich immer mehr Vorwürfe als wahr heraus, und die Staatsanwaltschaft prüft den Anfangsverdacht auf Amtsmissbrauch gegen den Direktor der Cobra, Bernhard Treibenreif. Ihm wird vorgeworfen, bei der Verschleierung der Affäre mitgeholfen zu haben – was dieser bestreitet. Es gilt die Unschuldsvermutung. (Jan Michael Marchart, 16.4.2022)