Eine schnelle Dokumentation der Taten durch Untersuchungskommissionen ist von großer Bedeutung, sagt die Juristin und Historikerin Anastasia Hammerschmied im Gastkommentar.

Ein Flashmob in New York macht auf sexuelle Gewalt im Ukraine-Krieg aufmerksam. Die Opfersicht muss Gehör finden.
Foto: APA / AFP / Kena Betancur

In den letzten Wochen gab es vermehrt Berichte über sexuelle Gewalt an ukrainischen Frauen durch die russische Armee. Am Montag forderte daraufhin die Direktorin der UN-Frauenorganisation, Sima Bahous, vor dem UN-Sicherheitsrat eine internationale Untersuchung.

Sexuelle Gewalt ist in kriegerischen Konflikten allgegenwärtig und für fast alle historischen Kriege belegt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie unvermeidbar ist oder mit männlicher Lust erklärt werden kann. Sexuelle Gewalt wird durch bestimmte Vorstellungen von Sexualität oder Geschlechterhierarchie bestimmt. Daher kommt sie auch nicht in allen Konflikten gleich häufig vor.

Kultur der Straflosigkeit

Ein strenges Verbot durch die eigene Armee, die Betonung, dass sexuelle Gewalttaten nicht geduldet werden, und die Bestrafung von Tätern bewirken eine Verringerung sexueller Gewalt. Der russischen Armee wird jedoch vorgeworfen, eine Kultur der Straflosigkeit zu leben, da etwa auch nach dem letzten Tschetschenien-Krieg sexuelle Gewalttat nicht verurteilt wurde. Und aktuell schafft Wladimir Putin mit Aussagen über die Ukraine wie "Ob es dir gefällt oder nicht, meine Schöne, du musst es erdulden" zusätzlichen Nährboden für solche Taten.

Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aus dem Jahr 1998 bezeichnet sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen, für das den einzelnen Täter die Schuld trifft. Es können aber auch Befehlshaber und Befehlshaberinnen sowie Politikerinnen und Politiker verantwortlich gemacht werden. Dafür muss nachgewiesen werden, dass sie sexuelle Gewalttaten systematisch als Kriegstaktik oder mit dem Ziel der ethnischen Säuberung in Kauf nehmen oder forcieren.

"Seit dem 16. Jahrhundert ist sexuelle Gewalt im Völkerrecht weitestgehend verboten."

Durch eine ausschließliche Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt als Kriegswaffe wird jedoch die individuelle Täter-Opfer-Ebene ausgeblendet. Zur Prävention und Aufarbeitung sexueller Kriegsgewalt ist es notwendig, die Komplexität der Taten zu verstehen.

Vielfach wird behauptet, das Verbot sexueller Gewalt in Kriegen wäre eine Errungenschaft der letzten Jahrzehnte. Das ist ein Irrtum. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist sexuelle Gewalt im Völkerrecht weitestgehend verboten, wenn auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema erst durch feministische Debatten in den 1970er-Jahren begann.

Kein Tabuthema

Sexuelle Gewalt ist auch, wie die kürzlich verstorbene deutsche Sozialwissenschafterin Gaby Zipfel betonte, kein Tabuthema. In der Vergangenheit wurde sie vor allem in Kriegszeiten durch Politiker und Politikerinnen sowie Journalistinnen und Journalisten thematisiert und schärfer verurteilt als in Friedenszeiten. Wichtig ist daher nicht, dass sexuelle Gewalt thematisiert wird, sondern wie wir darüber sprechen und wer wann spricht.

Die US-amerikanische Historikerin Ruth Harris hat analysiert, dass in Untersuchungskommissionen zu Kriegsgräueln im Ersten Weltkrieg weibliche Opfer kaum zur Sprache kamen. Da diese von sexueller Gewalt meist abstrakt erzählten, dominierten die Aussagen männlicher Zeugen, die detaillierter und skandalisierender waren, die Kommissionsberichte.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba begründete eine Forderung nach Waffenlieferungen damit, dass "Kinder ... mitansehen müssen, wie ihre Mütter vergewaltigt werden". Eine solche Instrumentalisierung sexueller Gewalt wird den Opfern nicht gerecht.

"Behörden müssen entsprechend geschult werden und Opfer erkennen, was derzeit oft nicht der Fall ist."

Frauen sind in Kriegen auf verschiedenen Ebenen von sexueller Gewalt gefährdet. Neben Übergriffen durch feindliche Soldaten steigt auch sexuelle Gewalt im eigenen Umfeld. Außerdem sind Frauen auf der Flucht gefährdet, wie jüngste Fälle sexueller Übergriffe an ukrainischen Geflüchteten in Deutschland zeigen.

Sexuelle Gewalt muss in allen Bereichen mitgedacht werden. Medizinische Hilfsleistungen vor Ort müssen auf die Betreuung von Opfern abgestimmt werden. Die EU kann vor allem bei der Aufnahme Geflüchteter ansetzen, indem sie Opfer unterstützt, psychologische und medizinische Betreuung sichert und Retraumatisierung vorbeugt. Behörden müssen entsprechend geschult werden und Opfer erkennen, was derzeit oft nicht der Fall ist.

Schnelle Dokumentation

Neben einem Interesse der Gesellschaft an der Verurteilung von Tätern ist diese aber auch für Opfer wichtig. Eine schnelle Dokumentation der Taten durch Untersuchungskommissionen ist dafür von großer Bedeutung. Zudem müssen internationale Gerichte in der Ermittlung oder während Zeugenbefragungen sensibilisiert sein. In der Vergangenheit wurde kritisiert, dass überholte Vorstellungen von sexueller Kriegsgewalt sowie stereotype und rassistische Opferbilder ausschlaggebend dafür sind, was vor Gericht zur Sprache kommt.

Gleichzeitig muss auch Russland die Gewalttaten aufarbeiten. Selbst wenn keine Systematik hinter Gewalttaten nachgewiesen werden kann, ist der russische Staat nach dem humanitären Völkerrecht verpflichtet, sexuelle Gewalt zu verbieten und zu verfolgen. Passiert das nicht, begeht Russland einen Völkerrechtsbruch, der nicht verhandelbar ist. (Anastasia Hammerschmied, 17.4.2022)