Putin ist im Moment nicht ansprechbar, von niemandem.

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Mittlerweile gibt es keinen Mangel mehr an leicht zugänglichen Texten, die das Denken der russischen Führung und damit die Basis für den Überfall auf die Ukraine am 24. Februar erschließen. Die programmatischen Schriften der Ideologen rund um den russischen Präsidenten Wladimir Putin liegen ja bereits seit Jahren vor, aber jene, die sie nicht nur lasen, sondern ernst nahmen, waren einsame Rufer in der Wüste.

Insofern ist die ukrainische Frustration, die sich zuletzt gegen den deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier entlud – so unklug und auch unfair sie Deutschland gegenüber ist –, sogar irgendwie nachvollziehbar.

Wieder einmal hätte man es wissen können, wenn man gewollt hätte. Auch wenn es viel mehr war, als von anderen europäischen Politikern kam, nahm die Ukraine Steinmeiers Entschuldigung nicht an. Immerhin war er vor seiner Präsidentschaft nicht nur Außenminister, sondern zuvor als Kanzleramtschef auch Beauftragter für die deutschen Nachrichtendienste. Er sollte gewohnt sein, das eigene Wunschdenken zu relativieren und nicht auf ein einziges Szenario zu setzen.

Europäisches Wunschdenken

Das europäische Wunschdenken, die Illusion über den Platz des Westens in der Welt, tut Sergej Karaganow in einem Interview mit La Repubblica, das weithin gelesen wurde, verächtlich ab: Das Ideal des "ewigen Friedens", sagt der noch immer einflussreiche frühere Berater Putins in einer Anspielung auf Emmanuel Kant, habe die Europäer in die Irre geführt.

Das Wort "selbstmörderisch" – für die Europäer – fällt mehr als einmal. Er droht mit Angriffen auf Ziele in Europa, sollte die Ukraine von Nato-Ländern weiter mit Waffen beliefert werden. Und er versucht, einen Keil zwischen die USA und die EU zu treiben.

Sein Argument, dass es ein europäischer Fehler war, sich so eng an Washington anzuschließen, dürfte bei einigen Menschen in Europa durchaus auf Resonanz stoßen. Was Karaganow damit impliziert, nämlich dass dafür die neue russische Ordnung akzeptiert werden müsste, blenden sie tunlichst aus.

Die Ideologie Putins

Eine der vielen schlechten Nachrichten im Interview ist, dass die für Russland militärisch unerwartet schwierigen ersten Wochen des Kriegs Putin eher bestärken werden – das gilt auch für das Ende des Schwarzmeer-Kriegsschiffs Moskwa.

Denn Russland findet sich aus eigener Sicht in einem ihm aufgezwungenen Überlebenskampf gegen die Nato, nicht nur in einem Krieg mit der "mit Nato-Waffen vollgepumpten" Ukraine. In einschlägigen Medien kann man ja auch lesen, dass die ganze Organisation der ukrainischen Armee in US-Hand sei.

DER STANDARD

Dieser Krieg hat schon viel früher begonnen, die neue Phase ist – in Karaganows Worten – "unvermeidlich" geworden. Russland werde siegen, die Fehler des Westens müssten "korrigiert" werden. In diesem existenziellen Krieg würden der "Krebs" und seine "Metastasen" ausgemerzt werden.

Unbequeme Tatsachen

Die russische Kombination des Nazi-Vorwurfs und eben jener Sprache, die man Nazis zuschreiben würde, macht schaudern. Die Ukraine werde entnazifiziert werden wie Deutschland – und Tschetschenien. Dieser Krieg hat aber auch, wie jeder ideologische Kampf, seine Folgen im Ausgangsland: Er werde "dazu dienen", sagt Karaganow, "die russische Elite und die russische Gesellschaft umzustrukturieren. Nichtpatriotische Elemente werden aus der Elite entfernt werden."

Und auch wenn die Russland vorgeworfenen Kriegsverbrechen allesamt "gefälscht" und "inszeniert" sind: Dass man sich die Hände schmutzig macht, konzediert Karaganow. Die Russen mögen nun "die moralische Überlegenheit verlieren", sagt er, aber damit begeben sie sich eben "auf das gleiche moralische Niveau wie der Westen".

Und genau hier schließt sich der Kreis zur unbequemen Tatsache, dass die Sicht "des Westens" auf den russischen Überfall auf die Ukraine – und vor allem die westlichen Konsequenzen daraus – keineswegs global akzeptiert sind.

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Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer bei Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Nehammer betonte, dass er zwei Tage danach nicht zu Putin nach Moskau gefahren wäre, hätte Selenskyj etwas dagegen gehabt.
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Die "Vergewaltigung Serbiens" 1999 mit der anschließenden "traurigen und demütigenden Show" des Prozesses gegen Slobodan Milošević in Den Haag ist international nicht so ein großes Thema wie der US-geführte Irak-Krieg 2003 auf gefälschten Grundlagen. Karaganow betont, dass niemand dafür zur Verantwortung gezogen wurde. Er erwähnt auch Libyen, wo die Nato 2011 ihr Uno-Mandat überschritt und damit Muammar al-Gaddafi stürzte.

Die Diplomatie des Westens

Eine vergessene Episode: Ausgerechnet die später von Wladimir Putin mit Hochzeitsjuwelen im Wert von 50.000 Euro beschenkte österreichische Außenministerin Karin Kneissl erhielt im April 2018 eine unfreundliche Lektion zu Österreichs internationalem Gewicht. Kneissl war explizit mit dem Offert einer möglichen österreichischen Vermittlungsmission in Syrien nach Moskau gekommen. Er sehe dafür "keinen Spielraum", erteilte der grantige Außenminister Sergej Lawrow den Österreichern ganz undiplomatisch offen bei einer gemeinsamen Pressekonferenz eine Abfuhr.

Dennoch, dem Argument, dass Tätigkeit besser sei als Untätigkeit, konnte man im Fall des Treffens von Bundeskanzler Karl Nehammer mit Putin am Montag in Moskau sehr wohl etwas abgewinnen. Von der Idee, dass eine österreichische Vermittlung akzeptiert werden könnte, distanzierte sich Nehammer jedoch allerspätestens nach dem Besuch. Beim Pressegespräch, in dem die "Risikomission" angekündigt wurde, waren die vielstrapazierten Begriffe "ehrlicher Makler" und "Brückenbauer" noch gefallen.

Ex-Kanzler Franz Vranitzky bringt es in einem Gespräch mit dem STANDARD diese Woche auf den Punkt: Den für eine solche Mission benötigten internationalen Stellenwert billige man Österreich derzeit ganz offenbar nicht zu.

Nicht ansprechbar

Nehammer war der erste Regierungschef aus dem Klub jener Staaten, die Sanktionen gegen Putin verhängt haben, der nach Kriegsbeginn nach Moskau reiste. Ob es Putin in irgendeiner Weise beeindruckte, dass ihm ein österreichischer Kanzler seine Kriegsverbrechen auf den Kopf zusagte, sei dahingestellt. Er wird zu antworten gewusst haben.

Als für Putin typisch wird der Hang zum Dozieren genannt: Wer ihm etwas sagt, muss sich dafür seine historischen und politischen Wahrheiten anhören. Der französische Präsident Emmanuel Macron, der auch nach Kriegsbeginn noch stundenlang mit Putin telefonierte, deutete die Leidensfähigkeit an, die man für diese Kommunikation braucht: "Jede Diskussion ist von Zynismus geprägt, es ist nie ein Vergnügen." Und gerade das Beispiel des Präsidenten der einzigen Atommacht in der EU zeigt auch: Putin ist im Moment nicht ansprechbar, von niemandem.

DER STANDARD

So eindeutig sich der österreichische Bundeskanzler und andere EU-Politiker zur Lage in der Ukraine äußern, in der Schärfe der Wortwahl gibt es einen eindeutigen Meinungsführer: US-Präsident Joe Biden. Er nannte Putin schon früher einen "Killer", seitdem folgten die Begriffe "Schlächter", "Kriegsverbrecher" und die Qualifikation des russischen Kriegs als "Genozid". Und er stellte fest, dass Putin nicht an der Macht bleiben könne.

Auch wenn Letzteres, was die Formulierung betrifft, manchen sogar weniger krass erscheinen mag, so ist es wohl die brisanteste Aussage: Das Weiße Haus stellte danach klar, dass die USA in Russland keinen "regime change" anstreben – und das spricht dafür, dass Biden sich zuvor nicht mit seinen Beratern abgesprochen hatte. Man mag Biden inhaltlich applaudieren, er bestärkte aber das russische Narrativ, Russland habe die Ukraine in Verteidigung des eigenen Landes überfallen, weil die USA ihm ihr System aufzwingen wollen.

Die Welt

In Putins Denken kann niemand eindringen. Eine andere bittere Erkenntnis ist jedoch, dass auch auf internationaler Ebene nur eine Minderheit von Staaten den westlichen Positionen und Aktionen folgt.

Darüber können auch die erfolgreichen Russland-kritischen Resolutionen in der Uno-Generalversammlung nicht hinwegtäuschen. Laut einer Aufstellung des Thinktanks ISPI in Mailand haben nur 19 Prozent der Staaten weltweit wegen des Überfalls auf die Ukraine Sanktionen gegen Moskau verhängt. Allerdings vereinen diese 51 Prozent an Bruttoinlandsprodukten.

Also sind die Reichen auf westlicher Seite? Auch die nicht alle. Wichtige Partner der USA machen nicht oder nicht ganz mit, Israel oder arabische Verbündete wie etwa die Vereinigten Arabischen Emirate. Die VAE sind eines der wenigen Länder, mit denen Österreich eine "strategische Allianz" unterhält.

Wir haben es satt

Wie sie sich vom westlichen Anspruch auf moralische Überlegenheit distanzieren, zeigte sich zuletzt bei der Resolution zum Ausschluss Russlands aus dem Uno-Menschenrechtsrat. Zwar gab es dafür noch immer eine eindeutige Mehrheit, aber etliche Länder, die bei anderen Resolutionen gegen Russland gestimmt hatten, enthielten sich. Die Botschaft ist: Wir haben es satt, dass ihr bestimmen wollt, wer die Guten sind, die im Menschenrechtsrat sitzen dürfen.

Ein schlagendes Beispiel dafür ist Kuwait. Das Emirat, das 1990 von seinem Nachbarn Irak überfallen wurde, war am 25. Februar sogar der einzige Nahoststaat gewesen, der bei der – durch das russische Veto verhinderten – Uno-Sicherheitsratsresolution als Sponsor des Entwurfs aufgetreten war. Die USA hatten das auch von Israel erhofft und sich eine Absage geholt. Kuwait, selbst Aggressionsopfer, machte damals mit. Aber bei der Abstimmung zum Menschenrechtsrat in der Vollversammlung enthielt es sich der Stimme.

Mannigfaltige Gründe

Die Gründe dafür, dass Partner des Westens diesen im Regen stehen lassen, sind mannigfaltig. Sie können konkret realpolitisch sein, wie im Fall von Marokko, das allen Abstimmungen fernbleibt, um sich niemandes Sympathie – die es für die eigenen Ansprüche in der Westsahara braucht – zu verscherzen.

Es sind strategische Gründe, die den schwindenden Einfluss der USA und den wachsenden Russlands und Chinas im arabischen Raum und in Afrika nachvollziehen. Manchmal bilden sie aber auch einfach eine vor allem im Nahen Osten grassierende US-Aversion ab. Sie ist lagerübergreifend und reicht von radikalen Islamisten bis zu jenen, die sie jagen.

Es wird unterschätzt, dass in vielen Regionen der Welt jede demokratische Äußerung, die sich gegen herrschende Regime richtet, als Verschwörung von außen verortet wird: egal ob 2011 in Ägypten oder eben 2004 und 2013/14 in der Ukraine und ab 2020 in Belarus.

Die USA, mit den Europäern im Schlepptau, wollen der Welt ihre Ordnung aufzwingen. Aber sie haben übersehen, dass ihre Hegemonie nicht nur unerwünscht ist, sondern auch zunehmend bröckelt. "Die Welt ändert sich, und der Westen sollte seinen Platz innerhalb der sich ändernden Realitäten neu bewerten", schreibt der russische Uno-Botschafter in Wien, Michail Uljanow. Es ist zu fürchten, dass global viele dieser Ansicht sind. Zumindest den Anspruch auf moralische Überlegenheit und auf das sich daraus erschließende Recht auf politische Meinungsführerschaft haben wir verloren. (Gudrun Harrer, 16.4.2022)