Die "kleine, hässliche Handschrift", die ÖAW-Forscher Christian Gastgeber unterwegs in der U-Bahn in einem digitalen Archiv fand, liefert einen wichtigen Hinweis in der Frage, warum sich ein ägyptisches Berechnungsmodell für den Ostertermin durchsetzte.
Bild: Veneranda Biblioteca Ambrosiana / Mondadori Portfolio / Montage: ÖAW

Ostern feiern setzt Rechenarbeit voraus. Das christliche Auferstehungsfest findet nämlich bekanntlich nicht an einem fixen Tag des Jahres statt, wie es etwa bei Heiligabend der Fall ist, der immerzu am 24. Dezember kommt. Mal liegt der Termin – nach heutigen Maßstäben im gregorianischen Kalender – Ende März, der frühestmögliche Termin ist der 22. 3. Dann kann er aber wieder rund einen Monat später kommen, spätestens am 25. April. Auch im Jahr 2022 fällt das Fest erneut auf ein verhältnismäßig spätes Wochenende. Und in der Folge finden oder fanden auch andere bewegliche Feiertage, die vom Osterdatum abhängig sind, eher spät statt: Der Aschermittwoch etwa liegt 46 Tage vor dem Ostersonntag, Christi Himmelfahrt 39 Tage nach dem Termin, auch der Pfingstsonntag und Fronleichnam folgen 49 beziehungsweise 60 Tage danach.

Dies liegt daran, dass der Festtermin auf dem Mondkalender basiert. Wie im 4. Jahrhundert festgelegt wurde, fällt Ostern auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling. Und als Frühlingsbeginn gilt der 21. März, wobei auch hier die astronomische Berechnung auf einen früheren Tag fallen kann.

Nicht nur heutzutage, wo es für viele Menschen hauptsächlich um die Organisation ihrer arbeitsfreien Tage geht, sorgt das für eine gewisse Unsicherheit, wenn der Termin nicht bereits im vorgefertigten Kalender eingetragen ist. Im Europa des Mittelalters war das religiöse Fest einer der Dreh- und Angelpunkte des Jahres, wobei man das Abrufen zukünftiger Osterdaten nicht aus dem Smartphone-nahen Handgelenk heraus erledigen konnte. Erst kam das Rechnen, dann das Fasten und Feiern.

Berechnung wanderte von Osten nach Westen

Bis zum 6. Jahrhundert gab es kein einheitliches Modell, um in christlichen Gemeinschaften den wichtigen Termin festzulegen. Damals war das Christentum bereits Staatsreligion des Römischen Reichs: Verfolgte man bis zu Beginn des 4. Jahrhunderts die Anhängerinnen und Anhänger des Kultes noch, gewann die Religion mit der konstantinischen Wende an Bedeutung, bis der Herrscher Theodosius I. im Jahr 393 sie zum wichtigsten Glauben im Staat machte.

Um die Osterfrage etwas aufzuklären und zumindest eine einheitliche Berechnungsmethode zu etablieren, beauftragte Rom den Gelehrten Dionysius Exiguus. Dieser wiederum fragte bei Gelehrten im ägyptischen Alexandria nach und wurde offenbar mit hilfreichen Schriften versorgt: Dort arbeiteten die damals führenden Astronomen. Auf welches Material sich der in Rom lebende Mönch dabei genau stützte, um die Kalkulation zu vereinfachen, war bisher aber unbekannt.

Hier lieferte kürzlich der Mittelalterforscher Christian Gastgeber von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ein neues Indiz, und zwar in Form eines handfesten Dokuments. Klar war bereits, dass Dionysius Exiguus eine Ostertermintabelle verfasste und dadurch ab dem Jahr 532 eine andere ägyptische Tabelle ersetzte, die bisher noch nicht gefunden wurde. Nun förderte Gastgeber aber eine griechische Abschrift der ägyptischen Tabelle aus dem 12. Jahrhundert zutage. Das Schriftstück aus der Biblioteca Ambrosiana in Mailand hatte der Historiker allerdings nicht live vor Ort im italienischen Archiv entdeckt: Er scrollte sich auf einer U-Bahn-Fahrt im Wiener Streckennetz durch digitalisierte Dokumente.

Gut genutzte U-Bahn-Zeit

"Ich möchte die Zeit in der U-Bahn gerne vernünftig nutzen", sagte Gastgeber gegenüber der APA. "Deswegen stöbere ich dann immer gerne in Onlinedatenbanken von Archiven und Bibliotheken." Dass er auf einen solch wichtigen Fund stoßen würde, dürfte ihn aber doch auch überrascht haben. Wobei die auffälligsten Dokumente nicht immer die bedeutendsten sind, wie auch der Osterrechner zeigt.

Denn dabei handelte es sich um eine ziemlich unauffällige Handschrift in griechischer Sprache, die der Gelehrte von Theophilos von Alexandria erhielt. "Unter einem Schatz stellt man sich ja eine illuminierte Handschrift in Goldtinte mit schönen Zeichnungen vor", sagt der Historiker. "Das aber war eine kleine, hässliche Handschrift, noch dazu in einem schlechten Erhaltungszustand, auf die ich nur aufmerksam wurde, weil ich mir dachte, dass das etwas aus dem Osterfestbereich sein könnte."

Sonderlich einfach zu entziffern und zu übersetzen war sie auch nicht, wie Gastgeber später bei der Recherche in Mailand feststellte. Das Dokument war teilweise doppelt beschrieben, um Pergament zu sparen – dies wird fachsprachlich als Palimpsest bezeichnet. Der Erhaltungszustand war schlecht und dürfte mit den vielen Zahlen Kolleginnen und Kollegen abgeschreckt haben, vermutet der Wissenschafter. Für das Lesen weniger Wörter brauchten er und der Bibliotheksdirektor Federico Gallo teilweise einen halben Tag. Außerdem beinhaltete das Dokument zahlreiche Abkürzungen, die damals üblich und verständlich waren: "Oft waren das nur irgendwelche Punkte und Striche in irgendeine Richtung in den Texten. Das Durcharbeiten war entsprechend mühsam, aber dann ergab es schließlich Sinn."

Historischer Sensationsfund

Das Dokument enthielt eine Tabelle mit berechneten Osterterminen, aber auch zusätzliche Informationen zu den angewandten Methoden. Ein aus Ägypten stammendes Verfahren, das sich in der Westkirche ab dem Jahr 532 durchsetzte – zumindest bis zur Kalenderreform im 16. Jahrhundert. Damals wurde der einst gebräuchliche julianische Kalender immer mehr durch den gregorianischen Kalender ersetzt. In verschiedenen Kirchenkalendern, bei einigen orthodoxen und altorientalischen Kirchen etwa, wird noch immer nach dem julianischen Kalender gerechnet und gefeiert. 2022 findet das russisch-orthodoxe Osterfest in einer Woche, am 24. April, statt. Es kann aber auch vorkommen, dass West- und Ostkirchen am gleichen Tag Ostern feiern: Im Jahr 2025 wird dies das nächste Mal der Fall sein. Im Jahr davor liegt hingegen mehr als ein Monat zwischen den Feiertagen: Am 31. März 2024 wird in der Westkirche gefeiert, in der Ostkirche erst am 5. Mai.

Seinen Archivfund wertet Gastgeber durchaus als sensationell durch den Brückenschlag zwischen Ost und West: "Die westliche, lateinische, von Rom unterstützte Osterberechnung stellt sich jetzt auf ein neues Bein", sagt der Historiker. Durch das Dokument lasse sich nachvollziehen, wie das grundlegende Modell aussah und wie es im Westen abgewandelt wurde. Die Termine in der Tabelle ließen sich nachrechnen und ergaben die korrekten Daten, wobei man sich nicht immer exakt an die Berechnungen hielt und die Termine im Laufe der Geschichte durchaus ein wenig "wandern", sagt Gastgeber.

Kein Krieg in der Fastenzeit

Für den Forscher zeigt der Fall, dass man historische Schätze nicht in Geheimbibliotheken suchen müsse, sondern diese auch in öffentlich zugänglichen Archiven auf ihre Entdeckung warten. "Einiges habe ich noch in petto aus meinen U-Bahn-Leseabenteuern", verspricht Gastgeber bereits. Den aktuellen Fund und erste Analysen veröffentlichte er nun im "Journal of Byzantine Studies" des ÖAW-Verlags.

Die Komputistik – also die Berechnung des Osterfesttermins – wird am Institut auch interdisziplinär weiterverfolgt, etwa in Bezug auf die Auswirkungen auf das Leben der mittelalterlichen Bevölkerung. Das mag banal klingen, doch tatsächlich kam es etwa dazu, dass in benachbarten Gegenden an verschiedenen Tagen Ostern gefeiert wurde, weil man unterschiedlich rechnete. Der Ostertermin konnte auch durchaus politische Brisanz haben und zu Machtkämpfen um die Festlegung des Datums führen, sagt Gastgeber: "In der Fastenzeit war zum Beispiel Kriegsführung nicht sinnvoll." (sic, 16.4.2022)