Nicht die korrupte Fidesz-nahe Elite und die neureiche Familie von Ministerpräsident Viktor Orbán, sondern die Bevölkerung wird die Rechnung bezahlen.

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Noch nie während meiner Besuche in rund fünfzig Jahren habe ich eine so düstere Stimmung in Ungarn gespürt, wie in der Karwoche nach dem vierten Wahlsieg der mehr als dreißig Jahren von Viktor Orbán geführten Fidesz-Partei. Nach der unerwartet eindeutigen Niederlage des aus sechs Parteien bestandenen und dem parteilosen Péter Márki-Zay geführten Oppositionsbündnisses berichteten alle meine Gesprächspartner über verstärkte Neigung zur Auswanderung im Familien- und Freundeskreis. Vor dem Hintergrund der fast totalen staatlichen Kontrolle der wissenschaftlichen Institute und der Medien bleibt für unabhängige liberale Geisteswissenschafter und politische Kommentatoren nur der Rückzug in die innere Emigration.

Meisterhaft und verlogen

Nicht nur die Sonderfaktoren, wie die von Orbán meisterhaft und verlogen (genau wie 2015 im Falle der Flüchtlinge) hochgepeitschte Angst vor den Folgen des Ukraine-Kriegs und die 4,5 Milliarden Euro kostenden "Wahlgeschenke", waren für den Verlust von 753.000 Oppositionsstimmen (verglichen mit 2018) verantwortlich. Das Zweckbündnis der politisch unterschiedlichen Gruppierungen, ohne ein überzeugendes Regierungsprogramm und ohne eine eindrucksvolle gemeinsame Ministerliste, konnte die von der durch und durch korrupten Orbán-Mannschaft enttäuschten Wähler nicht gewinnen und musste sogar in Budapest und anderen urbanen Zentren Stimmenverluste verbuchen.

László Lengyel, einer der klügsten Denker, wirft vor allem den deutschen, aber auch den anderen Investoren aus dem EU-Bereich und den USA vor, dass sie in den zwölf Jahren des Vormarsches des autoritären Regimes aus Feigheit und Gleichgültigkeit überhaupt keine Inserate in den wenigen unabhängigen Medien, von Klubrádió bis zu mehreren Websites, platziert haben. Dafür, dass die EU bisher keine Taten (dafür wirkungslose Resolutionen) angesichts des Abbaus des Rechtsstaats und der Medienfreiheit seit 2010 (!) gesetzt hat, seien vor allem Deutschlands Ex-Kanzlerin Angela Merkel, aber auch ihr Koalitionspartner SPD verantwortlich. Jetzt diskutiert man über völlig wirkungslose Symbolhandlungen, wie ob die Oppositionsabgeordneten überhaupt der feierlichen Parlamentseröffnung und der Angelobung beiwohnen sollen. Der Historiker Krisztián Ungváry schlug sogar den Boykott des Parlaments durch die sonst zu "Hofnarren" degradierten Oppositionspolitiker vor.

Das von Orbán erfundene NER (Nemzeti Együttmüködés Rendszere – System der Nationalen Zusammenarbeit) könnte sich langfristig zu einem konservativen, autoritären und personalisierten System entwickeln, vergleichbar mit dem in Portugal zwischen 1932 und 1974 etablierten "Neuen Staat" (Estado Novo) unter Antonio de Oliveira Salazar.

Eingesperrte Kritiker

Im Gegensatz zum Salazar-Regime sperrt Orbán die Kritiker nicht ein; die Grenzen bleiben offen. Der Nationalökonom András Inotai rechnet aber bald mit einer großen Wirtschaftskrise. Nicht die korrupte Fidesz-nahe Elite und die neureiche Familie des Ministerpräsidenten, sondern die Bevölkerung wird die Rechnung bezahlen. Die Folgen des bösen Erwachens sind aber unberechenbar – auch für den von Hochmut verblendeten und bisher ungefährdeten Viktor Orbán. (Paul Lendvai, 19.4.2022)