Seltener Protest: Am 14. März hielt Marina Owsjannikowa im russischen TV ein Antikriegsschild in die Kamera.

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Es ist Putins Krieg", hieß es nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, so als sei das Ganze einfach nur ein Irrtum der Geschichte. Die Formel appelliert weniger an eine real existierende russische Öffentlichkeit, die derzeit kaum mehr zu erreichen ist. Die Rede von "Putins Krieg" beschwichtigt vielmehr eine mentale Repräsentation Russlands – in den eigenen Köpfen.

Diese russische Idee im Westen ist wesentlich auch mit kulturellen Errungenschaften seit dem 18. Jahrhundert verbunden, als das russische Reich zum Kreis der europäischen Großmächte aufschloss. Sie würdigt Leistungen, die man Russland zurechnet und denen man sich verwandt fühlt, was einen besonderen Draht verspricht, sozusagen von Kulturnation zu Kulturnation.

Mentale Landkarte

Diesen Platz auf der mentalen Landkarte des Westens müssen sich die Völker Osteuropas, die nach Unabhängigkeit streben, erst noch erkämpfen. Die Ukraine hat derzeit gute Aussichten, zumindest den Krieg um Köpfe und Ideen zu gewinnen. Wo aber Puschkin gegen Putin gesetzt wird, herrscht noch immer der Glaube an die verbindende Kraft Kunst und Kultur im Dienst der Humanität, es dominiert der Glaube, dass das kulturelle Feld auf wundersame Weise immun sei gegen Bomben und Kriegsverbrechen; ja dass es sogar über den "killing fields" in der Ukraine den Boden bereiten könnte für gemeinschaftliche Unternehmungen zur Friedensstiftung.

Es wird ausgeschlagen

Den Brücken, die gebaut werden sollen, fehlen Köpfe auf beiden Seiten. Das Angebot, angesichts des andauernden Mordens, Folterns und Vergewaltigens und der Zerstörung allen zivilen Lebens auf Jahre hin, an gemischt besetzten Benefizveranstaltungen teilzunehmen, in denen an Versöhnung und gemeinsame Werte appelliert wird, schlagen ukrainische Vertreter und Vertreterinnen dankend aus.

Im staatlich gelenkten Kulturbetrieb Russlands ist Widerspruch aus naheliegenden Gründen kaum auszumachen. Stattdessen herrscht vielfach "business as usual" und eine Zustimmung zur Kriegspolitik, die keineswegs immer bestellt scheint. Widerstand bleibt individuell, durch Auswandern oder die Bereitschaft, sich im Protest ungeschützt von den Schranken des Rechts dem postsowjetischen Disziplinierungsapparat auszuliefern wie die russische TV-Journalistin Marina Owsjannikowa. Während der Nachrichtensendung Wremja des Senders Perwy Kanal tauchte sie hinter der Nachrichtensprecherin auf und hielt ein Schild mit der Aufschrift "Stoppt den Krieg" in die Höhe.

Feind der Gegenwart

Was substanzielle Veränderungen in Russland betrifft, sind die Erwartungen in der Ukraine ohnehin gering: "Putin ist der Feind unserer Gegenwart, die russischen Liberalen sind die Feinde unserer Zukunft. Denn auch sie wollen Russland als Imperium erhalten", so dämpft der Kiewer Philosoph Vakhtang Kebuladze die Erwartung an eine schnelle Einhegung des Krieges und deutet ein neues Paradigma zum Verständnis des Konflikts an.

Was tun? Wenn das letzte Solidaritätskonzert gespielt, die letzte Protestresolution unterschrieben ist, bleibt Künstlern, Künstlerinnen und der Intelligenz angesichts täglich sich überbietender Kriegsnachrichten nur Einsicht in die eigene Ohnmacht oder aber die Mühen der erkenntniskritischen Arbeit an den Voraussetzungen unseres Denkens: Was verursachte die Blindheit, in der das Erwartbare dieses Krieges uns überrascht hat?

Auch diese Krise hat ihre Bücher der Stunde. Und: Es sind nicht immer neue Publikationen, die unsere Weltsicht nachhaltig verändern. Die Beschreibung mittlerweile zerstörter ukrainischer Städte des deutschen Historikers Karl Schlögel aus dem Jahr 2015 befüllte in den ersten Kriegstagen die weißen Flecken der Wahrnehmungsgeografie vom zweitgrößten europäischen Flächenstaat und machte die Ereignisse des Maidan 2014 als revolutionären Akt kenntlich, in dem sich die kulturell vielfältige Ukraine als politische Willensnation konstituierte.

Völker als stumme Exoten

Aber wo kommen die weißen Flecken überhaupt her? Die polnisch-amerikanische Slawistin Ewa M. Thompson liest in ihrer bemerkenswerten Studie Imperial Knowledge: Russian Literature and Colonialism (2000) die Klassiker der russischen Literatur unter Auspizien postkolonialer Theorie neu. Aus den Helden des russischen Seelenlebens werden plötzlich Eroberer, die mythenstiftende Weite des Landes wandeln sich zum "theatre of war" einer aggressiven Expansionspolitik, die unterworfenen Völker zu stummen Exoten, deren Stereotype bis heute etwa das Bild der Kaukasusregion bestimmen. Was diese Arbeit über den literaturwissenschaftlichen Kontext hinaushebt, ist Thompsons These: Die Kolonialgeschichte Russlands wurde nie einer kritischen Reflexion unterzogen und bestimmt weiter das Selbstbild Russlands.

Denken in Russland

Es gelang sogar, meint Thompson, über Epochen hinweg, die imperiale Perspektive in Europa zu vermitteln. Der Glaube an eine Sendung Russland zum Wohle auch der eroberten Völker, die von ihren Nationalismen, Unter- und Fehlentwicklungen befreit werden müssten, sich letztlich aber aus freien Stücken unterwerfen, dominiere das kulturelle, philosophische und politische Denken in Russland auch nach dem Fall der Sowjetunion. Wie eine deckungsgleiche Folie legt sich Thompsons Argumentation über die tägliche Kriegspropaganda.

Die Geschichte Europas nach 1989 wäre so nicht nur eine des Zusammenbruchs der kommunistischen Diktaturen, sondern auch die eines Kampfes ehemals unterworfener Provinzen gegen eine imperiale Macht. Der Krieg, der sich dem Streben der Ukraine nach Selbstbestimmung entgegenstellt, ist unter Umständen nicht der letzte seiner Art. (Uwe Mattheiß, 19.4.2022)