Mehr als 37 Jahre diente David Petraeus im US-Militär. Seine Karriere gipfelte in sechs aufeinanderfolgenden Kommandos, von denen fünf im Kampfeinsatz waren. Der Viersternegeneral war Befehlshaber der Multi-National Force im Irak, er hatte das Kommando über das US Central Command inne und führte auch die Koalitionstruppen in Afghanistan. Nach seiner militärischen Karriere war er kurzzeitig Direktor der CIA, stolperte allerdings über eine auch politisch brisante Affäre mit seiner Biografin.

David Petraeus verfügt als Ex-General der US-Armee über eine jahrzehntelange Erfahrung, unter anderem im Irak und in Afghanistan (Bild: Besuch eines Mahnmals in Australien 2019).
Foto: Imago / AAP / Lukas Coch

STANDARD: Wladimir Putin hat Alexander Dwornikow zum Kommandanten der russischen Streitkräfte in der Ukraine ernannt. Hat diese Entscheidung bereits Auswirkungen auf die Kriegsführung und die Dynamik der Gefechte?

Petraeus: Ich vermute, dass sich die Konzentration der russischen Streitkräfte auf ein bestimmtes Gebiet als wichtiger erweisen wird als die Ernennung von General Dwornikow zum Befehlshaber aller russischen Streitkräfte in und um die Ukraine. Nichtsdestotrotz hatten die Russen in der vorherigen Situation die so wichtige einheitliche Befehlsgewalt eindeutig nicht etabliert. Ich hatte beispielsweise diese einheitliche Befehlsgewalt während der US-Truppenverstärkung im Irak, dem "surge", und über die Koalitionstruppen auf dem Höhepunkt des Krieges in Afghanistan. Darüber hinaus ist Dwornikow natürlich am bekanntesten für den brutalen Feldzug, den er 2016 in Syrien beaufsichtigte, als die russischen Streitkräfte Aleppo grausam und wahllos bombardierten und viele Teile der Stadt entvölkerten.

STANDARD: Die ukrainische Armee hat die russische Invasion zumindest vorerst aufgehalten, nicht zuletzt weil die Angreifer schwere strategische, operative und taktische Fehler gemacht haben. So haben die Russen möglicherweise keine angemessene Risikobewertung vorgenommen. Haben die Russen jetzt aus ihren Fehlern gelernt?

Petraeus: Das werden wir erst wissen, wenn die erwartete Offensive im Südosten der Ukraine richtig gestartet wird. Die russischen Streitkräfte konzentrieren sich eindeutig dort und scheinen die Absicht zu haben, den von ihnen derzeit kontrollierten Teil der Südostukraine erheblich auszuweiten. Bislang haben sie dort nur bescheidene, sehr hart erkämpfte und kostspielige Gewinne erzielt. Das Gelände, ich war dort, ist offener und hügeliger und weniger bewaldet und weniger urban als das Gelände um Kiew, das den sehr entschlossenen, einfallsreichen und fähigen ukrainischen Streitkräften geholfen hat, die Russen weit vor der Stadt aufzuhalten und sie dann zurückzudrängen. Insbesondere dann, wenn die Gebiete im Südosten trocken sind und Kettenfahrzeuge, Panzer sowie gepanzerte Transporter in der Lage sind, abseits der Straßen zu fahren, könnten die Russen eine beträchtliche Masse an Truppen aufbieten.

STANDARD: Und wie reagieren die Streitkräfte der Ukraine darauf?

Petraeus: Die Ukrainer versuchen, viele ihrer Streitkräfte aus der Nordukraine etwa 700 Meilen südöstlich neu zu positionieren und zu versorgen, und das wird kein Spaziergang sein. Auch brauchen die Ukrainer alle erforderlichen Materialien zur Errichtung massiver Hindernisse, um die russischen Angreifer zu verlangsamen und zu stoppen. Die Ukrainer können Russlands Einheiten mit den hochentwickelten Panzer- und Flugabwehrraketen – die von den USA, Großbritannien und anderen westlichen Staaten zur Verfügung gestellt werden – sowie mit den ukrainischen Panzern, Schützenpanzern, Artilleriegeschützen, Mörsern, Drohnen und Luftunterstützungsflugzeugen für Bodentruppen vernichten.

STANDARD: Welche Art von schweren Waffen braucht die ukrainische Armee, um die russische Aggression insgesamt zu vereiteln?

Petraeus: Wie ich bereits erwähnt habe: Die Ukrainer brauchen Panzer, Artillerie, Schützenpanzer, Javelin-Panzerabwehrlenkraketen, Stinger-Flugabwehrlenkraketen, Mehrfach-Raketenwerfer, Mörser, Kampfhubschrauber, Drohnen sowie Flugzeuge und Helikopter zur Erdkampfunterstützung. Weiter benötigen die Ukrainer Pionierausrüstung, Erdbewegungsgeräte und Material für die Errichtung komplexer Hindernisse – einschließlich Panzerabwehrminen.

STANDARD: Im russischen Offizierskorps scheint es einen gewissen Widerstand gegen Putins Krieg zu geben. Können Sie sich einen Militärputsch vorstellen, um Putin zu stürzen und den Krieg zu beenden?

Petraeus: Das kann ich mir vorstellen, ja. Aber ich rechne im Moment nicht damit. Wladimir Putin muss zu den paranoidesten Führern der Welt gehören – und ich bin sicher, dass er einen enormen Sicherheitsapparat um sich herum hat, zusätzlich zu loyalen Untergebenen, die die größeren Sicherheitsorganisationen leiten. Abgesehen davon gibt es aber in der Geschichte Russlands Umwälzungen während Konflikten wie die Februarrevolution und die Oktoberrevolution vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs. Das sollten wir nicht vergessen. Es ist auch denkbar, wenn auch vielleicht nicht wahrscheinlich, dass die russischen Streitkräfte mit der Zeit einfach an Effektivität verlieren. Napoleon stellte fest, dass die Moral im Verhältnis zum Körperlichen so wichtig ist wie drei zu eins. Und die Ukrainer, die immerhin um ihr Überleben und ihre Unabhängigkeit kämpfen, sind in Bezug auf die wichtigste Eigenschaft bei solchen Unternehmungen – das Herz – weitaus beeindruckender.

STANDARD: Offenbar sind die russischen Truppen in der Ukraine sehr schnell bereit, in großem Umfang Kriegsverbrechen zu verüben. Es scheint, dass sie nicht dafür ausgebildet sind, im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht – zumal den Genfer Konventionen – zu kämpfen und Zivilisten zu schonen. Stellen Kriegsverbrechen einen wesentlichen Bestandteil der russischen Militärdoktrin dar? Sind die russischen Truppen überhaupt in der Lage, einen Feldzug so zu führen, wie es eine moderne Berufsarmee tun sollte?

Petraeus: Die US-Armee und die westlichen Armeen haben sehr hart daran gearbeitet, eine Kultur aufzubauen, die sich an die geltenden Einsatzregeln hält, die stets auf den Genfer Konventionen und dem Recht der Landkriegsführung beruhen. Wir haben im Laufe der Jahre Fehler gemacht, einige davon sehr schwerwiegend. Zum Beispiel waren das die Misshandlungen im Gefangenenlager Abu Ghraib zu Beginn des Irak-Einsatzes 2003. Aber das waren Ausnahmen, nicht die Regel. Und wir haben sie immer untersucht, die entsprechenden rechtlichen Schritte eingeleitet, versucht, aus den Situationen zu lernen, und Maßnahmen ergriffen, um eine Wiederholung solcher Fehler zu vermeiden …

STANDARD: … und die Russen?

Petraeus: Die russische Armee scheint eine Kultur errichtet zu haben, die sich durch häufige und wiederholte Kriegsverbrechen auszeichnet: Tötung und Vergewaltigung unschuldiger Zivilisten, Tötung und Misshandlung von Kriegsgefangenen und Häftlingen, Zerstörung der zivilen Infrastruktur, gezielte Angriffe auf zivile Einrichtungen wie den Bahnhof in Kramatorsk, die Entbindungsklinik in Mariupol und so weiter. Solche Aktionen sind barbarisch, sie scheinen die Regel und nicht die Ausnahme zu sein. Im Zeitalter allgegenwärtiger Smartphones, Satellitenbilder und sozialer Medien werden unsägliche Taten der russischen Truppen sehr deutlich dokumentiert und können nicht geleugnet oder bestritten werden. Diese Attacken der russischen Soldaten sind auch sehr, sehr töricht. Die Taten verstärken den Hass der Ukrainer auf die Russen und tragen dazu bei, dass sich ein starker ukrainischer Nationalismus und eine Ablehnung Russlands ausbreiten.

Ironischerweise hat Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, mehr dazu beigetragen, den ukrainischen Nationalismus zu schüren und zu fördern als jede andere Entwicklung in der postsowjetischen Ära.

STANDARD: Russlands Streitkräfte haben große Verluste an Personal und Waffen erlitten, wie etwa zuletzt den Raketenkreuzer Moskwa. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Hat Putin genügend militärische Reserven, um die Feindseligkeiten über die Ukraine hinaus auszuweiten, also ein weiteres Land anzugreifen?

Petraeus: Das Letzte, was Putin braucht, ist eine weitere Front. Insbesondere eine Front, die Russland in eine direkte Konfrontation mit den USA und anderen Nato-Streitkräften hineinziehen würde. Das wäre äußerst unklug und falsch. Und obwohl es auf allen Seiten zu Schäden kommen würde, wäre die Schwächung der russischen Streitkräfte beträchtlich. Man darf nicht vergessen, dass die Eskalationsmöglichkeiten eines solchen Krieges enorm wären – und deshalb darf ein konventioneller Krieg zwischen atomar bewaffneten Gegnern nicht stattfinden. (Jan Dirk Herbermann, 19.4.2022)