"Die Menschen sterben" – nicht mehr als diese wenigen Worte hatte jemand auf ein Stück Stoff geschrieben und es zwischen einem Baum und einer Straßenlaterne aufgehängt. Lang wird es nicht dort gehangen haben, aber lange genug, um am Sonntag seinen Weg über das Internet in die Welt zu finden. Die Menschen sterben – aber nicht an Corona.

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Eine Person, die anonym bleiben möchte, hat der Nachrichtenagentur AP Fotos vom Messegelände in Schanghai geschickt, wo positiv Getestete mit leichten oder keinen Symptomen untergebracht werden.
Foto: Beibei via AP

Es sind die vielen kleinen Videos, Fotos und Soundschnipsel, die der Welt derzeit etwas über die tatsächliche Situation in Schanghai erzählen, so wie dieses Telefongespräch:

"Sagen Sie Ihren Vorgesetzten, dass das eine Schande für Schanghai und China ist", sagt der deutsche Geschäftsmann am Telefon. "Sagen Sie, dass diese Politik dumm ist und dass sie nicht funktioniert!"

Die Frau am anderen Ende der Leitung versucht zu beschwichtigen: "Ich weiß ..."

"Nein, Sie wissen gar nichts, Sie haben keine Ahnung, welcher Irrsinn hier vor sich geht", unterbricht sie der Mann. Doch die Frau erwidert: "Aber Ihr Test war positiv, Sie werden heute abgeholt und in ein Quarantänecamp gebracht. So sind die Regeln."

Grelles Licht, keine Dusche

Im Laufe des zehnminütigen Gesprächs stellt sich heraus, dass der Mann und seine Frau vor einigen Tagen schon einmal in ein "Fangcang"-Krankenhaus, wie die Quarantänecamps heißen, gebracht worden waren. Dort aber stellte man einen Fehler im System fest, der PCR-Test war nun doch negativ, sie durften wieder nach Hause. Allerdings sollten sie erneut getestet werden, das aber passierte nie. Stattdessen der Anruf zwei Tage später, man wolle sie nun wieder in ein Camp bringen.

Die Zustände dort sind grauenhaft: tausende Betten aneinandergereiht, grelles Licht, das die ganze Nacht brennt, keine Duschen, verdreckte Toiletten.

"Jeder ist fassungslos, dass dies in der fortschrittlichsten Stadt Chinas passiert", sagt Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer. Wirtschaftsverbände wie die EU-Kammer, sonst im Ton überaus konziliant, bitten die Regierung in Peking inständig, die Covid-Politik zu überdenken. Nicht nur weil derzeit viele Fabriken nicht mehr arbeiten können, sondern auch weil der Druck für Mitarbeiter immer mehr zunimmt.

Während in der ausländischen Community Schanghais Ärger und Angst wachsen und erste Konsulate dabei sind, ihre Bürger zu evakuieren, geht es bei den weniger privilegierten Einwohnern der Metropole um Leben und Tod.

Zwar versorgt die Stadtregierung die Menschen mit Lebensmittelpaketen, aber das scheint unterschiedlich gut beziehungsweise schlecht zu funktionieren. Nicht selten ist das Gemüse bereits angefault oder mit der Chlortinktur, mit der alles und jeder ständig überzogen wird, durchtränkt. Immer wieder werden Menschen in ihren Wohnungen eingeschlossen und die Haustüren versiegelt.

Zahl Drei als Erfolg

Drei Todesfälle hat die Stadtregierung jetzt vermeldet. Sicherlich, alle Zahlen aus China waren und sind mit Vorsicht zu genießen. Sie sagen mehr über die Ziele der Regierung als über die Realität. Und Ziel war es immer, die Zahl der Corona-Toten niedrig zu halten. Und so steht die Zahl Drei für Erfolg. Denn über die Zahlen auf der anderen Seite der Gleichung wird erst einmal nichts berichtet.

Menschen sterben, weil sie einen Herzinfarkt hatten, aber ohne einen negativen PCR-Test nicht ins Spital gelassen wurden. Sie sterben, weil Behandlungen wie Chemotherapien oder Dialysen einfach ausgesetzt werden. Sie sterben, weil sie die Belastungen nicht mehr ertragen und sich selbst töten.

Nach wie vor ist kein Ende in Sicht. Die bisherige Regelung besagt: Wenn ein Wohnblock 14 Tage lang keinen positiven Fall aufweist, dürfen sich die Bewohner wieder frei bewegen. Derzeit aber ist die einzige Möglichkeit, ins Freie zu gelangen – und gleichzeitig die Gefahr, sich zu infizieren –, der tägliche PCR-Test: denn dort stehen tausende Menschen Schlange und kommen sich nahe. (Philipp Mattheis, 18.4.2022)