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Eine Bewohnerin steht neben einer nicht explodierten Rakete im Dorf Kukhari in der Region Kiew.

Foto: REUTERS/Vladyslav Musiienko

In der Hauptstadtregion wurden zahlreiche Gebäude zerstört – wie etwa hier im Kiewer Vorort Borodianka.

Foto: Sergei SUPINSKY / AFP

Das städtische Krankenhaus liegt gleich hinter einem Checkpoint, an dem Soldaten die Fahrzeuge kontrollieren. Am Eingang prüfen Bewaffnete unsere Papiere. Ja, wir sind angemeldet – doch es dauert. Schließlich dürfen wir auf das Gelände, besuchen ein ganz normales Krankenhaus, verschanzt und versteckt hinter Sandsäcken, die Fensterscheiben verklebt. Alltag in Kiew – der Stadt, in der man bis vor wenigen Tagen glaubte, der Krieg sei längst vorbei.

Am Eingang treffen wir Tanya und Andryi, die ihre neugeborene Tochter im Arm halten. Ein Kind, geboren mitten im Krieg. Wie wird es aufwachsen? Wann wird es wieder Normalität geben in Kiew? Ein unbeschwertes Leben, ohne Sirenen, ohne Luftangriffe?

Ihor Chermak, der Klinikleiter, führt uns herum. "Seit dem 24. Februar, seit Kriegsbeginn, sind die Ärzte und die Krankenschwestern vor Ort", erzählt er uns. "Niemand ist weggegangen. Wir wohnen bereits seit mehr als 50 Tagen im Krankenhaus. Tag und Nacht. Wir wohnen, arbeiten und behandeln hier. Selbstverständlich hat jeder von uns seine eigene Familie. Doch sie haben Verständnis."

Splitterschutz im Kreißsaal

Natürlich werden in Kiew Opfer des Krieges versorgt. Zivilisten, Menschen aus den vielen Dörfern der Umgebung, die umkämpft waren, die fast vollkommen zerstört sind. Doch auch Krankheiten gibt es noch in der Großstadt. Über Corona spricht niemand mehr in Kiew, aber es gibt das Virus noch. Und auch Herzinfarkte, Schlaganfälle und wichtige Operationen. Die Ärztinnen und Pfleger arbeiten rund um die Uhr. Ihor Chermak zeigt uns die Geburtsstation. Es ist bedrückend. Kinder kommen hinter Sandsäcken zur Welt, in einem Kreißsaal, dessen Fenster mit Splitterschutzfolie verklebt sind.

Die kleine Sophiya ist gerade einmal einen Tag alt. "Am 24. Februar, um drei Uhr morgens, wurden wir durch eine Explosion geweckt", erzählt Aksenya, ihre Mutter, damals hochschwanger. "Das war erschreckend. Wir packten unsere Taschen und flohen aus der Stadt." Schließlich erreichten Akseniya und ihr Mann Oleksand die Stadt Kirowohrad. Hier lebt Akseniyas Schwester.

"Dort blieben wir. Das Haus hatte einen Keller. Der Mann meiner Schwester hat dort Sessel aufgestellt. Die beiden haben selbst eine kleine Tochter. Bei jedem Luftalarm mussten wir in den Keller. Das war furchtbar." Das Schlimmste aber war für Akseniya, schwanger zu sein unter diesen Umständen, sagt sie. "So viele Jahre haben wir auf Sophiya gewartet. Und jetzt begreifst du, dass du nicht nur für dich selbst verantwortlich bist, sondern noch für ein anderes Lebewesen, dein zukünftiges Kind."

Im Schockzustand

Das Haus befindet sich in der Nähe eines Flughafens. Akseniya und ihr Mann hörten die ständigen Raketenangriffe. "Wir waren im Schockzustand", sagt die junge Mutter. Und Oleksand, ihr Mann, ergänzt: "Wir haben das nie erwartet. Dass so etwas Schreckliches passieren wird in unserem Land. In unserem Heimatland."

Nach dem Abzug der russischen Truppen kehrte das Paar zur Geburt nach Kiew zurück. Sie glaubten, die Kämpfe seien vorbei – ein Trugschluss. Seit einigen Tagen ist der Krieg zurück in der Region. Wohl in Vorbereitung auf die Großoffensive im Süden und Osten der Ukraine werden Rüstungsfabriken und Wartungseinrichtungen für Militärgerät am Stadtrand von Kiew angegriffen.

Spürbare Anspannung

Tag und Nacht hören auch wir die Sirenen, Luftalarm. Einmal trifft es eine Raketenfabrik, einmal ein Panzerwerk. Oder auch nur Knotenpunkte der städtischen Strom- und Wasserversorgung. Ein, zwei kurze Detonation hintereinander nehmen die Menschen schon gar nicht mehr wahr. Die ukrainische Luftverteidigung hat anfliegende Raketen zerstört. Doch immer wieder sieht man auch Feuerschein und Rauchwolken, wenn Raketen ihre Ziele am Stadtrand getroffen haben. Die Innenstadt von Kiew ist bislang unzerstört, doch die Angst, die Anspannung ist spürbar. Viele haben bereits die Koffer gepackt, sind bereit zur Flucht, so erzählen sie uns.

Witali Klitschko, der Bürgermeister der Stadt, warnt die Geflohenen vor einer Rückkehr: Die Stadt sei nicht sicher. Die russischen Streitkräfte haben Angriffe auf "Entscheidungszentren" angedroht. Und von diesen, etwa Ministerien oder Behörden, gibt es viele in der Hauptstadt. Und die Versorgungslage? Noch ist sie ausreichend. Viele Restaurants, Bars und Cafés sind geschlossen. Doch in den Supermärkten sind die Grundnahrungsmittel nach wie vor vorhanden.

In der städtischen Klinik sieht Ihor Chermak eine ganz neue Aufgabe auf sich und sein Team zukommen: psychologische Betreuung. "Der ständige Alarm, das sind systematische Stressangriffe, die man gar nicht richtig wahrnehmen kann. Ist es ein Albtraum oder Realität? Die Raketen, die Sirenen, die Flucht, die Panik. Danach sind die Menschen in unserem Spital. Und die wichtigste Frage für sie ist: Werde ich morgen noch leben?" (Jo Angerer aus Kiew, 19.4.2022)