In seinen eigenen Augen war er Religionsarchäologe und Therapeut, Erlöser und Synästhet, Seinsmystiker und Festefeierer, ein Kosmopolit, der in Österreich lebt, und ein Fan des Weinviertels, Anarchist und Verächter der Pensionierung, Genießer alles Fleischlichen und dabei talentloser Koch, war er Caesar, Nero, Wagner "und alles, was je war". Aus der Sicht der Kunstwelt war er der wichtigste Vertreter des Wiener Aktionismus. Dessen gesamtkunstwerklichen Anspruch, ritualisierten Exzess und vielleicht auch Sackgassen hat niemand so konsequent und unbeirrbar vertreten wie Hermann Nitsch.
Der Weg zum universell Kreativen wurde dem 1938 in Wien Geborenen zwar nicht in die Wiege, aber doch nahegelegt. Sein Großvater, der ein begabter Zeichner war, und ein Bildhauer, förderten sein Talent, an der Graphischen lernte er fünf Jahre lang entsprechende Techniken. Als er knapp 20 war, kamen die Anregungen des Action Painting dazu und erste wilde Malexperimente von Markus Prachensky. Gemeinsam mit Arnulf Rainer und Günter Brus entwickelte Nitsch die Praxis der "Schüttbilder". Bald wurden die Aktionen ebenso wichtig wie die Ergebnisse.
Bereits diese Phase in Nitschs Werk war multimedial avant la lettre: in Form von kleinen, dann immer größeren Performances, musikalisch untermalt, als Filme und Fotos festgehalten. Unter dem Einfluss Otto Mühls und seiner speziellen Rezeption der Psychoanalyse wurden die Malaktionen körperlicher im Wortsinn, radikaler und die Zuschauer auf harte Proben stellend. Das war in den 1960er-Jahren, als die Aktionisten eher verlacht und verfolgt wurden, vor allem im Inland.
Kunst und Katharsis
Als sich die Gruppe der Aktionisten zu zerteilen und aufzulösen begann, verfolgte Nitsch am nachhaltigsten die Vorstellung, dass Kunst eine kathartische Wirkung haben kann und soll. Er entwickelte die Mal- und Körperaktionen – weit über 100 waren es im Lauf der Jahre – zu immer aufwendigeren rituellen Festen weiter.
Statt mit Farbe hantierte er längst mit Blut, statt mit anorganischer Substanz mit Tierfleisch und Menschenkörpern. Es wurden Orgien-Mysterien-Theater (OMT) aufgeführt, zunächst viele Stunden, dann drei, schließlich sechs Tage lang: 1998 realisierte Nitsch in und bei seinem Schloss im niederösterreichischen Prinzendorf sein "Bayreuth", ein Spiel von Tod und Wiedergeburt, ein Bacchanal mit viel Wein und Musik, von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen.
Ein knappes Jahrzehnt später war Nitsch nicht nur im internationalen Feuilleton, sondern auch im österreichischen Kulturbetrieb etabliert: 2005, als er auch im Burgtheater aufführen konnte, bekam er den Großen Österreichischen Staatspreis und weitere Auszeichnungen, das Land Niederösterreich richtete ihm 2007 in Mistelbach ein Museum ein, ein Jahr später tat sein Förderer und Käufer Giuseppe Morra das Gleiche für ihn in Neapel.
Museale Anerkennung
Laut eigenen Aussagen waren Nitsch die museale Anerkennung und die hohen Preise für seine Werke zwar recht, doch er betrachtete sie nur als Mittel zum Zweck, weitere Aufführungen realisieren zu können. Er selber habe sich nie um Geld gekümmert, das hätten vor allem seine Frauen und Förderinnen getan – 1968 bis 1971 war er mit Beate König verheiratet (sie starb bei einem Autounfall), ab 1988 mit Rita Leitenbor.
2014 kam es nach einem Einbruch im Schloss zu Zwistigkeiten mit dem engagierten Detektiv und schließlich zu einem Finanzstrafverfahren wegen Steuerhinterziehung gegen Hermann Nitsch und seine Frau. Es endete 2017 mit einer Verurteilung von Rita Nitsch, die sich allein schuldig bekannte. Zu seinem Achtziger ließ Nitsch in Mistelbach 2018 seine 155. Performance durchführen, eine "Sinfonie für großes Orchester + Aktion", flankiert von Begeisterung, Ablehnung und einer Hommage im ORF zu seinem Geburtstag.
Erfüllte und unerfüllte Träume
Im Sommer 2021 konnte er einen alten Traum verwirklichen: Bei den Bayreuther Festspielen gab er sein Debüt und interpretierte mit seinen Farbräuschen die Bühnengestaltung zu Richard Wagners "Walküre". Für Nitsch war der Komponist "der Freileger des Gesamtkunstwerks".
Im selben Sommer hätte der Universalkünstler ein weiteres Sechs-Tage-Spiel in Prinzendorf inszeniert, doch pandemiebedingt musste der Termin auf Juli 2022 verschoben werden. Erst Mitte April wurde bekannt, dass die ersten zwei Tage am 30. und 31. Juli stattfinden werden – nun muss dieser langersehnte Traum von Nitsch ohne die physische Präsenz des Künstlers in Erfüllung gehen.
Kaum anderswo als in Österreich hätten sich die Einflüsse eines barocken Katholizismus, einer Freude am Dionysischen bei gleichzeitiger Ablehnung allzu vieler Diskurse, gar der intellektuellen Sorte, und einer Lust am endlosen Spektakel, die "nichts mit Politik zu tun haben" will, so in einer Person vereinigen können wie in Nitsch; wobei der Dionysos in ihm immer durch Apoll eingebremst wurde, indem der Künstler die Schlachtungen und Brachialaktionen mithilfe umfangreicher Partituren kontrollierte und im Zaum hielt.
An der Kunsthochschule in Hamburg unterrichtete er parallel die Theorie zu seiner Praxis, an der Frankfurter Städelschule war er von 1971 an mehr als drei Jahrzehnte Gastprofessor.
Nitsch stand für Ambivalenz
Österreichisch ist auch seine Künstlerkarriere, die mit Skandalen und Verhaftungen beginnt; die von Verunglimpfungen als Gotteslästerer, Tierquäler, Stümper und Schwein (welch ein Missverständnis, gerade dieses Tier betreffend!) begleitet wird; die dann fast wie in einem Skript durch Flucht ins Ausland fortgesetzt wird und schließlich – entgegen dem Diktum Qualtingers – den Künstler schon vor dem Tod hochleben lässt, bis christkonservative Duodezfürsten ihn an ihre Brust drücken.
Widersprüchlich und doch folgerichtig. Denn Nitsch stand für die Ambivalenz: Da war der rundliche, kleine Mann mit Rauschebart, halb Pfarrer (vor allem mit seinem Prälatenhut), halb das, was sich norddeutsche Medienleute unter einem älplerischen Seppl vorstellen. Da war aber auch der unbeirrbare Verfechter der Idee, dass Kunst etwas bewirken und reinigen kann, wenn sie ans Eingemachte geht. Am Montagabend starb Nitsch 83-jährig, wie seine Familie bekanntgab. (Michael Freund, 19.4.2022)