Im Gastkommentar kritisiert der Princeton-Politologe Jan-Werner Müller den Applaus für Viktor Orbán von konservativer, postliberaler Seite.

Viktor Orbán genießt anhaltend große Unterstützung im Land. Bei der jüngsten Wahl erreichte seine Fidesz-Partei erneut die Zweidrittelmehrheit. Die Opposition ging unter.
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Die weltweite extreme Rechte freut sich hämisch. Nach jüngsten Rückschlägen hat einer ihrer Bannerträger, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, bei der Parlamentswahl in diesem Monat einen überwältigenden Sieg errungen. Während Leute wie der nationalistische italienische Politiker Matteo Salvini einen Preis für ihre frühere Verherrlichung des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu zahlen scheinen, gilt dies für Marine Le Pen, die in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl Zweite wurde, und Orbán eindeutig nicht.

Nationalistisch-konservatives Disneyland

Verschiedene postliberale, illiberale und antiliberale Intellektuelle feiern Orbáns Ungarn seit langem als nationalistisch-konservatives Disneyland – wo Männer noch Männer sind und Frauen noch Frauen. Nun bejubeln sie Orbán als den wahren Führer des Westens, dessen Wahlsieg als entschiedene Absage der Bevölkerung an den Liberalismus zu verstehen sei. Ihre Bereitschaft jedoch, selbst die unappetitlichsten Aspekte von Orbáns Herrschaft zu rechtfertigen, zeigt etwas, das bereits in Donald Trumps nur eine Amtszeit währenden Präsidentschaft in den USA deutlich wurde: Sie sind bereit, jeden Preis für die Realisierung ihrer illiberalen politischen Präferenzen zu zahlen und dafür sogar Autoritarismus und Kleptokratie zu akzeptieren.

Die ungarische Wahl war frei, aber nicht fair, denn sie fand in einem System statt, das internationale Beobachter zu Recht als Wahlautokratie bezeichnet haben. Die, die auf Orbáns Eigenwerbung als "illiberaler Demokrat" hereingefallen sind, haben sich die Idee zu eigen gemacht, dass eine Demokratie real ist, solange die herrschende Partei die Wahl nicht offen fälscht. Jedoch erfordert Demokratie mehr als betrugsfreie Wahlen; sie erfordert auch die effektive Nutzung wesentlicher Rechte, nicht zuletzt ein freies Medienumfeld.

Verklärte Politik

Orbáns internationale Bewunderer erinnern stark an Personen, die man früher als "nützliche Idioten" bezeichnet hätte. Im 20. Jahrhundert wurden zahllose Bücher produziert, um Intellektuelle zu beschämen, die sich verleiten ließen, die Sowjetunion zum sozialistischen Paradies zu verklären. Heute wollen einige glauben, dass Ungarn ein Modell für einen Sozialkonservatismus darstellt, der mit den Pietäten des freien Marktes gebrochen hat.

Doch während Orbán die staatliche Macht skrupellos und raubgierig einsetzt, tut er das weitestgehend, um Ungarns Oligarchen zu bereichern. Zugleich ist das öffentliche Gesundheitswesen des Landes chronisch unterfinanziert, und das Leben der ohnehin schon Schutzbedürftigen hat sich in eine Hölle auf Erden verwandelt.

Verzerrte Ansichten

Ungarn ist außerdem ein praktischer Hallraum für selbsterklärte Fürsprecher akademischer Freiheit. Sie können dort vor dem Ministerpräsidenten, der die Central European University aus dem Land gedrängt hat und Chinas Fudan University eingeladen hat, eine Niederlassung in der Hauptstadt zu eröffnen, über "Cancel-Culture" jammern. Wie bei den ideologischen Konflikten des 20. Jahrhunderts können politische Narzissten ihre kleinkarierten Probleme immer im Spiegel eines anderen Landes reflektiert und scheinbar gelöst finden. Sie sind dabei heute, wie schon damals, blind für die kolossalen politischen Fehleinschätzungen, die sich aus ihren verzerrten Ansichten ergeben.

Doch scheint die Kategorie der nützlichen Idioten in gewisser Weise nicht länger angemessen, weil sich Orbáns Verteidiger durchaus der Tatsache bewusst zu sein scheinen, dass die an ihrem Idol geübte Kritik – nämlich dass er einem Regime von zügelloser Käuflichkeit vorsteht – völlig begründet ist. Wann immer dies angesprochen wird, kopieren sie getreulich Orbáns eigene Strategie, indem sie die Debatte auf ihr Lieblingsthema lenken: ihre angebliche Schikanierung vonseiten liberaler Globalisten und Progressiver. Sie gehen dabei so weit, Letztere eines "weichen Totalitarismus" zu bezichtigen.

Verlorener Kulturkampf

Doch hatte Ungarns jüngste Wahl wenig mit dieser konservativen Paranoia zu tun. Es ging bei dieser Wahl nicht darum, dass ein illiberaler David den liberalen Goliath im großen transnationalen Kulturkrieg bezwingt. Ihr wichtigstes Merkmal war, dass die Orbán-Regierung den Bürgern Angst machte, dass die Opposition das Land zur Kriegspartei in Russlands Krieg mit der Ukraine machen wollte. Noch schlimmer ist, dass die Regierung Putin faktisch unterstützt, indem sie die Lieferung von Waffen an die Ukraine über ihre Grenzen verboten hat.

"Wie immer legten die Sympathisanten des Illiberalismus dabei genau das Verhalten an den Tag, das sie auf ihre liberalen Feinde projizieren."

Zudem hat der kulturelle Illiberalismus dort, wo er in Ungarn wirklich einen Kampf führte, verloren. Ein auf hochgradig manipulativen Fragen basierendes Referendum über den "Schutz von Kindern" erzielte die gewünschte Mehrheit, aber war aufgrund einer unzureichenden Wählerbeteiligung ungültig. Diejenigen, die den Liberalen immer vorwerfen, sie würden die Demokratie nicht respektieren, behaupteten deshalb sofort, dass Bürger, die ihre Wahlzettel aus Protest gegen die LGBTQ-feindliche Hasskampagne der Regierung ungültig gemacht hatten, "die Demokratie angegriffen" hätten. Wie immer legten die Sympathisanten des Illiberalismus dabei genau das Verhalten an den Tag, das sie auf ihre liberalen Feinde projizieren. Statt konkrete Probleme innerhalb des Verfahrens zu finden, lief ihr Argument letztlich auf die Aussage hinaus: "Es kann keine Demokratie sein, sofern nicht unsere Seite gewinnt."

Viele Orbán-Anhänger sind weder Idioten, noch stützen sie sich auf das Argument, dass Ungarns sozialistische Regierungen ebenfalls korrupt waren. Das stimmt zwar, doch verblassen deren Defizite im Vergleich zu jenen der dutzend Jahre, in denen Orbán den Staat in industriellem Maßstab ausgeplündert hat – auch dies ist etwas, von dem man denken sollte, dass es für die für "Tugend" eintretenden Konservativen wichtig wäre.

Die jüngste Welle verlegen antiliberaler Kommentare über Ungarn hat eine Klärung gebracht. Sie hat gezeigt, dass die Gegner des Liberalismus Korruption und Autokratie hinnehmbar finden. (Jan-Werner Müller, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 20.4.2022)