Mai 1996. Vigna San Martino in Neapel. Ein Weinberg im Stadtgebiet, oben auf dem Gipfel eine mittelalterliche Kartause, in der Ferne der Vesuv. Den Berghang hinauf zog die Nitsch-Prozession. An der Spitze der scheinbar Gekreuzigte, dahinter Paraphernalien einer Nitsch-Aktion, Schlachttierinnereien inklusive. Einige erfahrene Teilnehmerinnen hielten sich rasch gepflückte Rosmarinzweige vor die Nase. In der Mitte der schwarzgekleidete Meister, einen winzigen Blutstropfen auf der Brille. Dazu die Prozession der angereisten Nitsch-Jünger. Und eine neapolitanische Bläser-Banda, die Töne produzierte, bei denen sich das Nackenhaar aufstellt – nicht weil sie so falsch, sondern weil sie so archaisch und schneidend klingen.

Hermann Nitsch war ein freundlicher, bäuerlich wirkender Mensch, aber er wusste, was Orgien und Mysterien sind und was Theater ist. Er sagte einmal, seine Aktionen müssten Ekel und Verstörung auslösen, aber zur Katharsis (Altgriechisch für Läuterung, Reinigung) führen. In der Realität war das völlig harmlos, was immer die geschreckten Bürger lange darüber dachten. Aber es gab eine Ahnung von archaischen Ritualen. Nitsch komponierte auch. Eines seiner Orgelstücke heißt Die Geburt des Dionysos Christos. Die Verbindung zwischen dem antiken Gott des Weines, aber auch der Ekstase und dem Gottessohn am Kreuz – wie selbstverständlich.

Hermann Nitsch war ein freundlicher, bäuerlich wirkender Mensch, aber er wusste, was Orgien und Mysterien sind.
Foto: APA/Roland Schlager

Der Weinberg in Neapel gehörte dem Grafen Giuseppe Morra, einem der größten Nitsch-Sammler. In seinem Nitsch-Museum im historischen Zentrum hinterließ ein langer, schmaler Gang, links und rechts von schwarzen Schüttbildern ausgekleidet, einen unvergesslichen Eindruck. So könnte der Eingang ins antike Totenreich, den Hades, ausgesehen haben. Ebenfalls in Neapel kombinierte eine Künstlergruppe die erotischen Darstellungen aus dem "cabinetto segreto" der Ausgrabungen von Pompeji mit durchaus lebenden Personen. Eine davon zeigt Nitsch als Gott Pan auf dem römischen Marmorrelief eines "ithyphallischen" Maultiers reitend (Foto auf teamniel.com unter "Das Geheime Kabinett II").

Nitsch war lange wüster "Kritik" und auch behördlicher Verfolgung ausgesetzt (wie so gut wie alle Wiener Aktionisten). Er litt lange danach noch darunter und konnte seiner Bitterkeit darüber deutlich Ausdruck geben, etwa auch bei einem Besuch des damaligen Kanzlers Franz Vranitzky auf Schloss Prinzendorf im Weinviertel, das er erworben und renoviert hatte. Dass jemand einfach Farbe auf eine Leinwand schüttete und das zu tief beeindruckenden Kunstwerken geriet, konnten und wollten viele nicht begreifen.

Video-Porträt: Der österreichische Künstler Hermann Nitsch ist am Montag im Alter von 83 Jahren verstorben. Er galt als Mitbegründer und einer der prominentesten Vertreter des Wiener Aktionismus



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Tierfreunde, darunter die Gattin von Kanzler Viktor Klima, hielten ihm die Verwendung von Tierblut vor, obwohl er längst nur solches von Tieren verwendete, die ohnehin geschlachtet wurden. Nach einem Abendessen zu seinen Ehren im Belvedere 21 fanden seine Sammler nachher ihre Autos mit roter Farbe übergossen vor. Eine Steueraffäre vor einigen Jahren, die mit einer saftigen Nachzahlung endete, erregte aber nur noch bei der FPÖ wirklich Aufsehen.

Nitsch war inzwischen als das erkannt worden, was er war: einer, der der Kunst eine neue sinnliche Richtung gegeben hatte; dessen Platz in einem Pantheon der internationalen Kunst ist. (Hans Rauscher, 19.4.2022)