Investorenverbände und Firmen lassen fruchtbares Land im Globalen Süden oft brachliegen oder nötigen die einheimische Bevölkerung in unsichere Arbeitsbedingungen.

Illustration: Fatih Aydogdu

Hinter der Zahl 811 Millionen verbirgt sich unsägliches Leid. So viele Menschen litten laut dem Report "The State of Food Security and Nutrition in the World" im Jahr 2020 Hunger. Kriege, politische und ökonomische Krisen, Folgen der Pandemie und der Klimawandel rücken das nachhaltige Entwicklungsziel "Zero Hunger" in weite Ferne.

"Dabei produzieren wir global ausreichend Lebensmittel", sagt Stefanie Lemke, Leiterin des Instituts für Entwicklungsforschung an der Universität für Bodenkultur in Wien. Aber wir verteilen sie falsch.

"Ernährungssicherheit ist eine Frage des Zugangs zu Lebensmitteln", sagt die Ernährungswissenschafterin. Um diese zu prognostizieren, greifen Forschende auf nationale und globale Statistiken zurück. Diese werden von der Welternährungsorganisation zur Verfügung gestellt und weisen Import und Export von Lebensmitteln, Kalorienmenge oder Haushaltseinkommen aus.

Einblicke geben auch "Food Balance Sheets", für die Daten oft in breitangelegten Studien erhoben werden. "Doch selbst damit weiß man noch nicht, wer im Haushalt profitiert", sagt Lemke, die auch in Südafrika lehrte und forschte.

Zielgerichtete Maßnahmen

Dort hat sie schon vor zwanzig Jahren bewiesen: Verwaltet der Mann die Familienfinanzen, ist die Ernährungssituation schlechter – selbst bei höherem Haushaltseinkommen. "Einkommen ist komplex, und wir sehen in Erhebungen zum Beispiel nicht, ob ein Onkel der Familie Geld schickt oder ein anderes Familienmitglied Essen vorbeibringt", sagt Lemke. Die Forschung bei und mit Beteiligten gemeinsam zu entwickeln sei wichtig, um zielgerichtete Maßnahmen zu planen.

"Die Klimakrise und der Verlust an Biodiversität steigern den Druck auf landwirtschaftliche Flächen", sagt Lemke. Rund zehn Prozent der heute produktiven Flächen, zeigt ein Spezialbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), könnten im Jahr 2050 nicht mehr für Vieh- oder Landwirtschaft geeignet sein.

Weizenkammer Ukraine

Heuschreckenplagen in Madagaskar, Dürren im Südsudan oder in Syrien sind nur einige der globalen Folgen des Klimawandels. Dieser verschlechtert die Ernährungslage für oft bereits wegen anderer Faktoren von Hunger bedrohte Menschen. Im Sudan treffen Trockenheit, die Abhängigkeit von ukrainischen und russischen Weizenimporten und ökonomische und politische Krisen aufeinander.

Ende 2022, zeigen Daten der UN, könnte die Ernährungssicherheit von 20 Millionen Menschen im Sudan nicht mehr gegeben sein. Auch hierzulande führen Dürren zu Ernteeinbrüchen. Würde es im Sommer um 3,5 Grad heißer sein und um 20 Prozent weniger regnen, müsste Österreich im Jahr 2050 Kartoffeln und Weizen importieren, geht aus einer Studie der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit hervor.

Fragliche Nutzung

Zu diesen Faktoren kommt eine oft fragliche Nutzung von Lebensmitteln. Fast die Hälfte des heimisch produzierten Weizens wird an Nutztiere verfüttert, fast ein Drittel wird energetisch oder stofflich genutzt. Forschende des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung fordern angesichts dieser Schieflagen einen Wandel des globalen Ernährungssystems, konkret auch weniger Lebensmittelverschwendung.

Die Menge des vergeudeten Weizens in der EU entspricht fast der Hälfte des gesamten Exportvolumens der Ukraine. Auch in vielen afrikanischen Regionen werden Lebensmittel nicht für die Menschen produziert, die sie am meisten brauchen. "Wenn Lebensmittel für den Export oder die Energieversorgung angebaut werden, hat die lokale Bevölkerung nichts davon", sagt Lemke.

Lösungen entwickeln

Statt die Produktion zu steigern, müsse man politische und marktwirtschaftliche Strukturen und die Verwaltung natürlicher Ressourcen ändern. Ein großer Hebel sind Landnutzungsrechte. Damit geht die Frage einher: Wer darf was für welchen Zweck anbauen?

Investorenverbände und Firmen lassen fruchtbares Land im Globalen Süden oft brachliegen oder nötigen die einheimische Bevölkerung in unsichere Arbeitsbedingungen. Lemke sagt dazu: "Wir müssen uns in der Forschung den jeweiligen Kontext einzeln ansehen und uns fragen, was wirklich relevant für die betroffenen Menschen ist."

Um konkrete Probleme zu identifizieren und Lösungen zu entwickeln, können sich Forschende mit Organisationen, Verbänden oder Vereinen vor Ort zusammenschließen. "Es gibt viele Initiativen, die wir mit der Forschung sinnvoll begleiten können", hebt Lemke eine mögliche Rolle der Wissenschaft in puncto Ernährungssicherheit hervor.

Hilfe zur Selbsthilfe

Lemke führt auch begleitende Forschung zum Pastorals Women’s Council durch, das sich dafür einsetzt, dass Frauen im Norden Tansanias Zugang zu Gemeindeland erhalten. Auf diesem halten sie Kühe und tragen so zu ihrer eigenen Ernährungssicherheit bei.

Letzten Endes könnten aber nur eine Verringerung der Konzernmacht, eine Dezentralisierung der Produktion und eine Stärkung lokaler Wirtschaftsgemeinschaften zu resilienten Ernährungssystemen führen, sagt die Ernährungsforscherin: "Dazu müssen auch die Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen Druck auf Regierungen ausüben, denn angemessene Ernährung ist ein Menschenrecht." (Laura Anninger, 24.4.2022)