Sexworkerin Tamara Solidor gibt Einblicke in ihren Arbeitsalltag.

Foto: Tim Oehler

Der das Puff betritt, folgt dem weinroten Teppich. Schummriges Licht taucht die Räume am Morgen in Abendstimmung. Weiße Figuren mit entblößten Brüsten säumen den Weg. Neben ihnen thronen schwere Ledersessel. Das Zimmer Nummer 3 ist in rotes Licht getaucht, ein Kingsize-Bett steht drin. Wer darin liegt, spiegelt sich an beiden Wänden und an der Decke. Aus der Box auf dem Regal läuft ein Song von Cardi B.

Tamara Solidor bleibt vor einem massiven goldenen Spiegel stehen. Bänder überkreuzen ihre Brüste. Seidenstrümpfe schmiegen sich an ihre Beine. Ihre Füße stecken in Hausschlapfen. Aus dem Hintergrund ertönen Stimmen. Solidor muss Schluss machen, vielleicht ein Kunde.

Nach einer Stunde ist sie wieder zurück. Sie steckt in einem dunklen Bademantel, darunter trägt sie Unterwäsche. Wenn ein Kunde kommt, bedeutet das: Schuhe wechseln, rein in die pastellfarbenen Heels mit Strass-Absatz und vorstellen. Entscheidet sich der Kunde für sie, nimmt sie ein Handtuch und eine Tagesdecke in die eine Hand und eine schwarze Ledertasche in die andere.

In ihrer "Nuttentasche", wie sie es nennt, hat sie immer alles parat. Sie weiß, wo sich Kondome, Gleitgel, Desinfektionsmittel, Toys, Ibuprofen, Tampons oder Traubenzucker befinden. Im Zimmer werden die Details geklärt. Wird man sich nicht einig, beginnt das Vorstellen der Sexworker von vorn. Für das Zimmer zahlt der Kunde 60 Euro, für den Sex ohne Extras ebenfalls.

Halbwissen und Vorurteile

Solidor arbeitet in einem Beruf, der nach wie vor tabuisiert wird. Sie ärgert sich besonders über das Halbwissen und die Vorurteile der Menschen. Damit sich die Gesellschaft mit dem Thema beschäftigt, startete sie auf Twitter eine Art Liveticker. Tausende Menschen folgten und likten ihre Fotos und Erzählungen zu #EinTagImPuff.

"Die meisten Menschen haben aus reinem Voyeurismus mitgelesen", erzählt Solidor ein paar Wochen später. Derartige Aufmerksamkeit sei immer ein zweischneidiges Schwert, weiß die Sexarbeiterin.

Sie habe lange mit sich gehadert, durch Corona sei die Situation der Sexarbeit aber derart frustrierend gewesen, dass sie sich durchgerungen habe, die Menschen in ihren Alltag mitzunehmen. Solidor will, dass man über Sexarbeit nachdenkt und sich fragt: Kenne ich Sexworker persönlich? Wenn nein, warum nicht?

Konservative Gegend

In Solidors Umfeld wusste lange niemand von ihrer Arbeit. Auch heute entscheidet sie bewusst, wem sie diese Information anvertraut und wem nicht. Sie wuchs in einem kleinen Dorf in der ehemaligen DDR an der Grenze zu Polen und Tschechien auf. Konservativ sei gar kein Ausdruck für die Einstellung der Menschen dort, erklärt sie.

In den 1990er-Jahren gab es kein Tinder und keine Apps, da schleppte man die Typen in der Disco ab. "Seit ich sexuell aktiv bin, macht sexuelle Monogamie für mich gar keinen Sinn." Im Dorf erlebte sie das Konstrukt aber als einziges Liebesvorbild.

Als sie nach Leipzig ging, um Theaterwissenschaft, Polnisch und Literaturwissenschaften zu studieren, konnte sie sich ausleben. "Ich hatte immer viele Sexualpartnerinnen und -partner. Am Ende bist du immer die Hure, egal ob Stadt oder Land."

Der deutsche Fotograf Tim Oehler hat in seinem Buch "Sex-Workers: Das ganz normale Leben" 30 Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter porträtiert, darunter Tamara Solidor. Tamara Solidor arbeitet im Puff, als Escort und in der Sexualbegleitung.
Foto: Tim Oehler

Trotz Zweifel heiratete sie mit Anfang 20 und bekam zwei Kinder. "Ich wollte unbedingt 'normal' sein. Alle anderen rund um mich waren es auch. Ich dachte, ich muss mich nur anstrengen." Solidor zwängte sich in den von der Gesellschaft erwarteten Lebensentwurf und wurde immer unglücklicher. "Für mich war dieses Verbiegen noch anstrengender als das Verstecken zuvor."

Schritt in die Selbstständigkeit

Weil ihr Ehemann viel im Job zu tun hatte, arbeitete sie nicht Vollzeit und kümmerte sich um die Kinder. Lange spielte sie mit dem Gedanken, sich zu trennen, wusste aber, dass damit enorme finanzielle Probleme auf sie zukommen würden. Trotzdem ließ sie sich schließlich scheiden. Und trotz akademischer Ausbildung arbeitete sie in mehreren Jobs gleichzeitig: an der Uni, in einem Café, und im Museum – das Geld reichte trotzdem nie.

Wenn sie heute von ihrem Leben und den Anfängen in ihrem Job erzählt, geht es immer auch um Stereotype, Körper- und Geschlechterbilder. "Mit meiner Arbeit kann ich nicht unpolitisch sein", sagt die 41-Jährige.

Solidor übernahm auch noch das Sorgerecht, über Jahre baute sich ein Gedanke auf: Mit so vielen Jobs und so wenig Flexibilität für die Familie kam sie nicht weiter. "Für mich wurde immer klarer, wenn ich mich mit fremden Menschen zu sexuellem Kontakt treffe, kann ich dafür auch Geld nehmen. Die Hure war ich ohnehin."

Neben ihren Jobs begann Solidor mit der Sexarbeit. 2020 entschloss sie sich, das ausschließlich und hauptberuflich zu machen. Kurz vor Corona wagte sie als Alleinerziehende den Schritt in die Selbstständigkeit.

Lustvolle Dekadenz

Solidor bezeichnet sich als unabhängige Escort, Kokotte und Halbweltdame. Sie erzählt auf ihrer Webseite von loser Moral und umschreibt damit das Ausleben der körperlichen und lustvollen Dekadenz. Man könne sie für einen Abend im Theater (zwei Stunden für 250 Euro) oder für die Nacht in einem Hotel buchen (zwei Stunden für 450 Euro).

Außerdem bietet sie Sexualbegleitung an, bei der sie Menschen mit Einschränkungen hilft, ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Es wirkt so, als wäre diese Tätigkeit für sie bedeutsam, doch leider sei das schlechter bezahlt und brauche viel Kommunikation. "Ich kann mir das nur durch die Escort-Dates leisten." Dazwischen arbeitet sie auch noch im Puff in Berlin.

"Der Staat hat die Sexarbeit kaputtreguliert", kritisiert sie. Das sei schon vor Corona der Fall gewesen, durch die Pandemie sei noch einmal klarer geworden, wie gern man die Branche loswerden würde. Kein anderer Sektor sei so stark eingeschränkt und gleichzeitig so wenig unterstützt worden.

Das alles habe auch mit dem Klischee zu tun, dass Sexarbeit schmutzig sei. "Ganz ehrlich, es gibt wenige Branchen, die derart auf Hygienevorschriften achten wie wir." Solidors Ton wird bitter, als sie fragt: "Warum durften Friseurinnen und Friseure und Masseurinnen und Masseure längst wieder arbeiten und wir nicht?" Ihre Arbeit wäre während der Pandemie möglich gewesen, wenn man das gewollt hätte. "Sexarbeit hat in der Gesellschaft keinen Platz, geschweige denn Akzeptanz."

Arbeitsverbot wegen Corona

Der deutsche Fotograf Tim Oehler hat in seinem Buch "Sex-Workers: Das ganz normale Leben" 30 Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter porträtiert, darunter Tamara Solidor. Tamara Solidor arbeitet im Puff, als Escort und in der Sexualbegleitung.
Foto: Tim Oehler

Solidor musste sich Geld von Bekannten leihen, um über die Runden zu kommen. "Es war für alle in der Sexarbeit eine katastrophale Zeit." Das Arbeitsverbot habe sie in die Illegalität getrieben. Solidor musste Anfragen annehmen, die sie vor Corona nicht einmal erwogen hätte.

Wie etwa ein Kunde, den sie in einem Airbnb traf und der kein Kondom verwenden wollte. Sowohl die Dienstleistung als auch die Miete waren zu diesem Zeitpunkt illegal. "Wäre ich nicht illegal in dieser Wohnung gewesen und hätte er mich nicht anzeigen können, hätte ich ihm die Hölle heißgemacht." Stattdessen diskutierten sie es aus, er lenkte ein.

Solidors Arbeit, das sind auch volle Koffer, die sie von A nach B schleppen muss, Laden voller Make-up und Schmuck sowie ein Blick auf die Uhr. Sie pendelt zusammen mit ihrem Partner zwischen Leipzig und Berlin. Ferdinand ist auch Sexworker, und so karren sie zusammen ihre Klamotten durch halb Deutschland. Wenn sie in Leipzig sind, leben ihre Kinder bei ihnen. In Berlin bewohnen sie ein WG-Zimmer zusammen. Mittlerweile teilt sich Solidor das Sorgerecht mit dem Vater ihrer Kinder.

Ringen mit sich selbst

Eines Tages vor der Schule rang sie mit sich selbst und erzählte ihrer damals neunjährigen Tochter von Dates, für die sie Geld nehme, und von Sexualbegleitung. Ihre Tochter fragte sie: "Mama, bist du eine Hure?" Solidor nickte, und ihre Tochter verabschiedete sich. "Ich hab Blut und Wasser geschwitzt an diesem Tag und mit meiner Offenheit gehadert", erinnert sie sich.

Als sie ihre Tochter zu Bett brachte, sagte diese, dass ihr der Beruf der Mutter gefalle und sie stolz sei. Darum erzählte sie auch gleich ihrer Freundin in der Schule davon, die sie daraufhin ärgerte und eine "Hurentochter" nannte.

Die unterschiedlichen Formen der Sexarbeit werden oft anders bewertet. Es nennt sich in der Branche die "Hurenhierarchie". Demnach ist Escort eine Ebene über dem Puff, Sexualbegleitung über allem und der Straßenstrich ganz unten. Solidor regt das auf. Warum dürfen Menschen die Arbeit von anderen bewerten?

Außerdem gebe es zwischen den Kunden im Bordell und Escort keinen Unterschied. Es seien fast immer weiße Cis-Männer, die sie als vermeintlich hetero einstuft, zwischen 18 und 80 Jahre. Diese haben das Geld und die Wirtschaftskraft und würden es sich finanziell wie auch gesellschaftlich leisten können, Sex zu konsumieren. "Ich wünschte, es wäre diverser."

Eigene Bedürfnisse kennen

Was Solidor am meisten nervt, ist das gefährliche Halbwissen über ihren Beruf. In der Gesellschaft lodere viel Lust. Anstatt diese Lust zu reflektieren, wüssten die meisten nicht einmal, was ihre Bedürfnisse seien. Das habe auch mit fehlender Bildung zu tun. "Es beginnt damit, dass die Menschen ihre Geschlechtsteile nicht benennen können. Wie sollen sie ihre Bedürfnisse kommunizieren, wenn ihnen die Sprache dazu fehlt?"

Dicke Regentropfen klatschen an die Scheibe, als Solidor eine Woche später in ihrem Auto sitzt. Das giftgrüne Logo eines Hotels blitzt auf. Am Tag zuvor ermöglichte sie dem 30-jährigen Michael sein erstes sexuelles Erlebnis. Er hat mehrere Erkrankungen, seine Schwester finanzierte das Date.

Die Scheibenwischer quietschen, Solidor lacht, als sie auf das Hotel im Industriegebiet deutet, und sagt, dass sie heute besonders unprätentiös und langweilig unterwegs sei. Gleich betritt sie es zusammen mit einem Feuerwehrmann. Er wird Helene Fischer hören wollen. (Eva Reisinger, RONDO exklusiv, 13.5.2022)