"Ich bin Erfinder und Entrepreneur!" Gut, das behauptet heutzutage ja bald einmal wer über sich selbst. Aber Jerry Davies sollte man trotzdem zuhören. Der Brite schildert nämlich gerne seine – wie er es nennt – "Heureka-Momente". Diese Gedankenblitze kommen nachts, aber auch untertags, und Davies hat über die Jahre gelernt, sie einzuordnen. "Die Kunst ist es, sofort zu erkennen, ob eine Idee nützlich ist und etwas taugt oder nicht", erzählt er.

Vor drei Jahren hatte er einen dieser "Heureka-Momente". Anders als der griechische Mathematiker und Ingenieur Archimedes allerdings nicht in einer Badewanne, sondern in einem Wasserpark. "Bei einem Sprung ins Becken hab ich mir meine Hoden verletzt", plaudert der Gründer unverblümt los.

Rolle bei der Penetration

"Sofort begann ich über Möglichkeiten nachzudenken, wie man diesen sensiblen Körperteil mit einer Art bequemem Körbchen, das alles präzise dort belässt, wo es hingehört, schützen könnte. Dabei kam mir der Gedanke, dass sich daraus auch ein Sextoy machen ließe, bei dem die Hoden die zentrale Rolle bei der Penetration spielen."

Wer hätte gedacht, dass eine misslungene Arschbombe ins Wasser den Unterschied zwischen Normalsterblichen und Erfindern derart deutlich machen kann. Während die einen noch nach Luft ringen, denken die anderen schon daran, wie sich der Schmerz am besten wegstecken lässt.

"Balldo" verspricht ein großes Lusterlebnis für alle Beteiligten.
Foto: Hersteller

Im Fall von Davies heißt das Resultat "Balldo" und ist ein hochgradig ungewöhnliches Produkt. Männer stülpen es sich über ihr Skrotum und machen damit ihre Hoden zu einem Teil eines Dildos. Die derart eingespannten Testikel sollen, sofern sauber rasiert und ausreichend mit Gleitmittel versehen, so zum großen Lustversprechen für alle Beteiligten werden.

Da tun sich jetzt natürlich ein paar Fragen auf. Zum Beispiel: Wie bitte, was? Oder: Von wo kommt denn jetzt bitte diese depperte Penetrationsfantasie schon wieder her? Gibt es da nicht unendlich viel mehr zu stimulieren? Auch mit genderneutralem Spielzeug? Wurde hier möglicherweise ein jahrtausendealtes Sexspielzeug neu gedacht? Aber braucht die Welt überhaupt noch so ein Ding? Und vor allem: Verkauft sich das?

Heiße Phase

Geht’s nach den Marktzahlen, dann ja. 2020 wurden weltweit 33,64 Milliarden US-Dollar mit Sexspielzeug umgesetzt. Ein Plus von über 26 Prozent im Vergleich zum Jahr davor. Sicherheitshalber sei angemerkt, dass 2020 das erste Covid-Pandemie-Jahr war. Und glaubt man Analysten, ist der Höhepunkt noch nicht erreicht. Die gehen nämlich bis 2028 von einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von acht Prozent aus.

Prognosen, die auch Jordis Meise erfreuen. Die 29-Jährige ist seit zwei Jahren Marketingchefin beim deutschen Sextoy-Hersteller Fun Factory. Seit mittlerweile 26 Jahren produziert das Unternehmen mit Sitz in Bremen einschlägiges Spielzeug für Erwachsene und verkauft jährlich mehr als eine Million Produkte.

Als Tochter von Fun-Factory-Mitgründer Dirk Bauer ist Meise, die unter anderem in Los Angeles und Schanghai studierte, in einem sehr liberalen Haushalt aufgewachsen: "Als Kind habe ich in der damals noch kleineren Gießerei mit Silikonresten gespielt. Unser Hund hatte keinen Knochen, sondern einen Doppeldildo zum Kauen."

Man muss nicht um den heißen Brei herumreden, wenn man von ihr etwas über das Sextoy-Geschäft wissen möchte. Etwa darüber, was sich alles in den letzten Jahren so getan hat. In Sachen Zielgruppe und Design zum Beispiel.

"Zur Zeit unserer Gründung bestand die Hauptzielgruppe vaginaler Toys aus Männern, die Produkte für ihre Partnerinnen kauften. Durch unsere bunten, verspielten Toys wurden Frauen zur Zielgruppe, die ein Toy für sich kaufen. Und zwar weil sie selbst Lust darauf haben. Das war ein riesiger Meilenstein", fasst Meise im Schnelldurchlauf zusammen. Und heute? "Paartoys werden immer beliebter, und wir sehen, dass sich Männer mehr und mehr für Sextoys für sich selbst interessieren."

Bunt und fidel

Design spielt eine wichtige Rolle. Insbesondere bei der Fun Factory, die als eines der ersten Sextoy-Unternehmen für ihr buntes, fideles Spielzeug mit renommierten Preisen wie dem iF Design Award, dem German Design Award oder dem Red Dot Design Award ausgezeichnet wurde. "Vor 26 Jahren war der Sextoy-Markt ziemlich überschaubar und einseitig. Es gab hauptsächlich realistische, geäderte, fleischfarbene Produkte aus zweifelhaften Materialien und von geringer Qualität", taucht Meise nochmals in die Branchengeschichte ein.

Heute sieht alles anders aus. Ergonomie und Design sind ebenso wichtig geworden wie körperfreundliche Materialien. Sextoys sind zu Lifestyle-Produkten avanciert und von der Körper- in die Gesellschaftsmitte gewandert: "Die ganze Branche verlässt die Schmuddelecke und geht den Weg Richtung Sexual Wellness", analysiert Meise.

Die Vibratorenserie "Ohhcean" ist aus recyceltem Plastik gefertigt.
Foto: Hersteller

Das könnte man auch klassisch als Rebranding bezeichnen. Sexspielzeug erhält ein neues, ansprechendes, gut designtes Äußeres, einen gefälligen Farbanstrich, um am Ende in eine äußerst luxuriöse Verpackung gesteckt zu werden. Die Hemmschwellen sinken, die Verkaufszahlen steigen.

"Meines Erachtens ist der Markt gegenwärtig mit Design-Sextoys überflutet. Zu viele Produkte sind zu ähnlich. Man tut sich wirklich schwer, Unterschiede zu finden", mosert etwa Jerry Davies, um zu ergänzen: "Alles hängt vom Marketing ab und vom Vorteil, den es bringt, aus der Masse herauszustechen." Davies, der Erfinder vom "Balldo", dem – wer sich erinnern will – Ding, das Hoden zum Lustgewinn leicht zweckentfremdet, hat dafür seinen Beitrag jedenfalls schon geleistet.

Es lassen sich noch andere Zugänge finden, wenn es darum geht, verkaufsfördernde Unterschiede gegenüber Mitbewerbern zu finden. Etwa beim Thema Nachhaltigkeit. Der riesige Sexual-Wellness-Markt produziert nämlich ordentlich Abfall: Mit ausrangierten Sextoys, Kondomen und Gleitmitteln kommen alleine in Großbritannien jährlich 223 Millionen Tonnen Müll zusammen.

Sex auf der Schwäbischen Alb

In der Geschichte der Sextoys, die vor 30.000 Jahren auf der süddeutschen Schwäbischen Alb beginnt, wie ein eindeutiger Fund nahelegt, waren die verwendeten Materialien schon viel nachhaltiger: Holz, Stein, Keramik, Horn und Glas wurden im Laufe der Zeit zu erotischen Objekten verarbeitet – und werden es noch immer beziehungsweise wieder verstärkt. Denn Silikon, immerhin hochbeliebtes Produktionsmaterial bei Erwachsenenspielzeug, ist nicht wirklich gut recycelbar.

Verwendet wird es trotzdem ausgesprochen gerne, da es weich, flexibel und hygienisch ist, sich gut formen und einfärben lässt und – auch nicht ganz unwichtig – sich schnell der Körpertemperatur anpasst. "Bei der Produktion unserer Toys setzen wir auf hochqualitative Materialien und auf ausgiebige, intensive Funktionstests, um sie möglichst strapazierfähig zu gestalten. All das garantiert die Langlebigkeit unserer Produkte, die wirklich hoch ist", erklärt etwa Simone Kalz, langjährige Produktenwicklerin und Produktionschefin bei der Fun Factory, aufs Thema Nachhaltigkeit angesprochen.

Nachhaltige Produktion

Verwendet wird medizinisches Silikon, zudem achtet man auf eine nachhaltige Produktion: "Wir haben einen sehr kleinen C02-Fußabdruck, da sich alle Abteilungen unseres Unternehmens von der Entwicklungsabteilung über Produktion, Verwaltung und Versand an einem Standort befinden. Die Verpackungen unserer Produkte sind zu 100 Prozent recycelfähig, und der Versand erfolgt plastikfrei."

Nicht alles, was am Markt ist, legt derartige Maßstäbe an. So mancher Vibrator, Dildo oder Penisring birgt schmutzige Geheimnisse. Allergene, giftige Weichmacher, Nickel, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe – die Schadstoffbilanzen, die Warentests bei Sextoys zutage gefördert haben, sind nicht gerade lustbringend.

Eines der erfolgreichsten Sextoys: Der "Womanizer" stimuliert die Klitoris über Luftschwingungen.
Foto: Hersteller

Kaum verwunderlich also, wenn Hersteller, wie jene vom Womanizer, einem der erfolgreichsten Sextoys der letzten Jahre, ökofreundlicher daherkommen wollen. Das Gerät hat den Vibratoren-Markt revolutioniert, weil die Stimulation der Klitoris über Luftschwingungen erfolgt. Beim Top-Produkt "Premium" setzt man nun auch auf Nachhaltigkeit, verwendet den Ökokunststoff Biolene und wirbt damit, dass am Ende des Produktzyklus alles zerlegt und recycelt werden kann.

Magische Momente

Es gibt aber noch andere Möglichkeiten. Auch die haben wieder mit Erfinder- und Unternehmergeist zu tun. "Ich hatte diesen magischen Moment, in dem mir klar wurde, dass meine Leidenschaft dafür, ein verspielteres Sexualleben anzuregen, dazu beitragen könnte, die Ozeane zu säubern." Es mag vielleicht ein wenig ökoschwülstig daherkommen, was Mathilde Mackowski sagt, wenn man sie fragt, warum sie Sextoys aus altem Meeresplastik unter die Leute bringt, aber das darf nicht den Respekt mindern, den man ihr entgegenbringen sollte.

Die Mitgründerin des dänischen Sextoy-Händlers Sinful, der größte Europas übrigens, sah Handlungsbedarf und Möglichkeiten. Gemeinsam mit dem Schweizer Start-up #tide, das spezialisiert darauf ist, aus dem Meer gefischtem Plastikmüll eine neue Verwendung zu geben, entwickelte man die Serie "Ohhcean".

Das dauerte gut drei Jahre, wie Mackowski erzählt: "Recyceltes Meeresplastik verhält sich anders als herkömmliche Kunststoffe, wenn es geschmolzen und in Form gebracht wird. Es brauchte zahlreiche Tests und Versuche, um zu lernen, wie das Material reagiert, und um die perfekte Passform zu finden."

Drei Vibratoren in beruhigenden Blautönen sind dabei rausgekommen. Sie sind ganz nach skandinavischen Designprinzipien simpel gehalten und könnten so auch als minimalistische Eyecatcher auf Sideboards herumkullern.

Sexy Scandi-Chic, der erst der Anfang ist, geht es nach Mathilde Mackowski: "Wir werden sehen, wie die neue Serie angenommen wird. Wir spüren aber bereits jetzt Begeisterung und Interesse aus der ganzen Welt und planen neue Produkte."

Man darf also gespannt warten, was noch alles kommen mag. (Manfred Gram, RONDO exklusiv, 2.5.2022)