Jessica Pin hat 150.000 Follower auf Tiktok, 2,3 Millionen Menschen gefallen ihre Clips. Im Mittelpunkt steht in fast allen: die Klitoris. Und nein, es sind keine pornografischen Inhalte, die die US-Amerikanerin produziert.

Die Gesellschaft findet seit Jahrhunderten Anstoß an der weiblichen Anatomie.
Foto: Eylül Aslan

Pin verlor in jungen Jahren fast sämtliche Empfindungen im Bereich ihrer Vulva. Bei ihren Recherchen dazu stellte sie fest, dass die Klitoris in der medizinischen Fachliteratur viel weniger Aufmerksamkeit bekommt als der Penis. Seitdem setzt sich Pin dafür ein, dass Lehrbücher für angehende Ärztinnen und Ärzte die weiblichen Geschlechtsorgane korrekt darstellen.

Schnitt im Schritt

Der Grund für Pins Empfindungsstörung im Bereich der Klitoris ist eine missglückte Labioplastik. Bei der Operation werden die Schamlippen "korrigiert", in den meisten Fällen die inneren Labien verkürzt.

Der Eingriff wird immer populärer: Im Rekordjahr 2019 unterzogen sich laut einer Studie der Internationalen Gesellschaft für ästhetische und plastische Chirurgie (ISAPS) weltweit 164.000 Frauen einem solchen. Mitgerechnet wurden dabei auch vergleichbare Eingriffe im Bereich der Vulva. So werden immer häufiger Venushügel aufgespritzt oder abgesaugt und sogar die Klitoris selbst modifiziert.

Die Risiken sind nicht zu unterschätzen: Neben den üblichen Gefahren durch Narkose und mögliche Infektionen kommt es immer wieder zu Nervenschädigungen – wie bei Jessica Pin.

Vulva-Shaming

Doch wieso unterziehen sich Frauen diesen Operationen? Auf Websites plastischer Chirurgen liest man, manche Patientinnen würden sich durch zu lange Labien in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen – was wohl nur in absoluten Ausnahmen der Grund für den Eingriff sein dürfte.

Das Gros der Labioplastiken fällt in die Kategorie der "Schönheitsoperationen". Die gewünschte Ästhetik wird gemeinhin als "Barbie-Vagina" bezeichnet. Dabei ist schon die Bezeichnung falsch und müsste eigentlich "Barbie-Vulva" heißen. Diese ist der sichtbare Teil der weiblichen Genitalien, während die Vagina der nicht sichtbare innere, schlauchförmige Teil ist. Wer schon länger keine Barbiepuppe mehr in der Hand hatte: Ihre Vulva ist lediglich durch einen winzigen Strich dezent angedeutet.

Dass große oder gut sichtbare Schamlippen als nicht schön empfunden werden, ist Teil eines Phänomens, das als "Vulva-Shaming" bezeichnet wird. Die schwedische Autorin Liv Strömquist widmet der gesellschaftlichen Abwertung der weiblichen Genitalien ihren Sachcomic "Der Ursprung der Welt".

Sie zeigt auf: Die Gesellschaft findet seit Jahrhunderten Anstoß an der weiblichen Anatomie. Dieses Missfallen lässt sich von der Hexenverfolgung bis hin zur Raumfahrt nachzeichnen: So schickte die Nasa 1972 mit der Raumsonde "Pioneer" Bildmaterial für etwaige Außerirdische ins All. Mit dabei: die Zeichnung eines nackten Paares. Die mit einem Strich angedeuteten Labien der Frau gingen den Verantwortlichen allerdings zu weit – und wurden kurz vor Start noch entfernt. Heute wäre das ein Fall für Jessica Pin. (Antonia Rauth, RONDO exklusiv, 5.5.2022)