Ziemlich nah kamen sich Leonardo DiCaprio und Kate Winslet 1997 in James Camerons "Titanic"-Verfilmung. Ob sie sich damals beim Dreh der Liebesszenen wohlgefühlt haben? Heute würde ihnen jedenfalls ein Intimacy-Coordinator zur Seite stehen.

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STANDARD: Können Sie bei Liebesfilmen noch so richtig dahinschmelzen?

Effertz: Na klar, ich bin durch und durch Romantikerin und liebe tolle intime Szenen.

STANDARD: Ihr professionelles Ich meldet sich im Kino nicht zu Wort?

Effertz: Wenn ich weiß, dass ein Kollege oder ein Intimacy-Coordinator in einen Film involviert war, schaue ich schon genauer hin. Ich überlege dann, wie getrickst wurde oder wie ich die Szene choreografisch gelöst hätte. Aber grundsätzlich lasse ich mich gern unterhalten. Da ich auch seit vielen Jahren als Schauspielerin arbeite, müssten Sie mich fragen, ob ich überhaupt noch Filme ansehen kann.

STANDARD: Was macht eine gelungene intime Szene aus?

Effertz: Wenn in einer Sexszene zwei nackte Körper aufeinanderhängen und die Kamera einfach nur draufhält, ist das langweilig. Wenn ich aber verstehe, was in der Psyche der Figuren passiert, wird es interessant. Es heißt ja nicht umsonst, Erotik sei Sex mit Intention. Wie gut solche Szenen sind, hängt aber letztlich von sehr vielen Faktoren ab. Den Schauspielern und Schauspielerinnen, dem Schnitt, der Beleuchtung, der Musik. Wir Intimitätskoordinatoren sind ein kleines Rädchen im Getriebe – aber wichtig, wenn es um den Arbeitsschutz und das Storytelling geht.

STANDARD: Muss in einer Sexszene viel Haut zu sehen sein?

Effertz: Ich bin der Meinung: Weniger ist mehr. Oft ist es wirksamer, das Kopfkino der Zuschauerinnen und Zuschauer in Gang zu setzen. Nacktheit kann aber auch ein Werkzeug sein, um Geschichten zu erzählen, so wie im Film Shame mit Michael Fassbender. Die schonungslosen Ganzkörperaufnahmen erzählen von der Sexsucht des Protagonisten: Wie der nackte männliche Körper die Leere und Kaputtheit der Figur spiegelt, das ist sehr durchdacht umgesetzt.

STANDARD: Womit beginnt denn nun Ihr Job?

Effertz: Mit der Vorbereitung: Ich lese das Drehbuch, verschaffe mir einen Überblick über die intimen Szenen und überlege mir Maßnahmen. Es folgen erste Gespräche mit der Regie, danach Einzelgespräche mit Schauspielerinnen und Schauspielern, mit Kostüm, Aufnahmeleitung, Regieassistenz, Kamera. Ganz wichtig ist die Probe der simulierten Sexszenen, dann begleite ich den Dreh, sorge für die Einhaltung des geschlossenen Sets und dafür, dass die Schauspieler sich wohlfühlen und die Szene gut aussieht. Meist stehe ich am Regiemonitor dabei. Nach Drehschluss sollen alle mit einem guten Gefühl nach Hause gehen.

Julia Effertz ist Schauspielerin und seit 2019 als erste Intimitätskoordinatorin im deutschsprachigen Raum tätig.
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STANDARD: Sie betonen in Interviews, nicht die Sexpolizei zu sein. Was meinen Sie damit?

Effertz: Nun ja, Stunt-Koordinatoren sind auch nicht die Gewaltpolizei. Wir wollen die Darstellung leidenschaftlicher Sexualität nicht verhindern, im Gegenteil. Wir haben das Handwerkszeug, die Regie bei der Umsetzung zu unterstützen – unter Wahrung der Grenzen der Spielenden. Genau diese Expertise wünsche ich mir als Schauspielerin, wenn ich selbst eine Liebesszene spiele.

STANDARD: Wer braucht Ihre Unterstützung am meisten?

Effertz: Ich bin für alle da. Frauen wie Männer sind verletzlich, Jüngere wie Ältere. Bei jungen Schauspielern und Schauspielerinnen, weil beispielsweise das Handwerk noch nicht so da ist. Bei älteren geht es vielleicht um Unsicherheiten den eigenen Körper betreffend. Für einen männlichen Schauspieler kann eine Vergewaltigungsszene der Horror sein.

STANDARD: Was ist Ihnen in Ihrer Arbeit wichtig?

Effertz: Ich bestärke Schauspielerinnen und Schauspieler darin, Grenzen zu setzen. Sie gelten nicht als schwierig, wenn sie das tun. Wenn ich mit der Regie Abläufe von Kuss-, Liebes-, Geburts- oder Gewaltszenen bespreche, benenne ich Körperpartien ganz direkt. Manchmal merke ich bei meinem Gegenüber, dass Befangenheit entsteht.

STANDARD: Können Sie das konkreter machen?

Effertz: In Filmen wird in heterosexuellen Szenen der Moment der Penetration oft nicht richtig erzählt. Das Paar zieht sich aus, er legt sich auf sie und zwischen ihre Beine, dann macht er eine Beckenbewegung. Das Einführen des Penis wird meist ausgelassen, das ist eine narrative Leerstelle. Wenn ich die Regie frage, wie der Moment erzählt werden soll, folgt manchmal großes Schweigen oder Kommentare wie: "Ach, das erzählt sich so mit." Auch Safer Sex ist selten Thema oder authentische Darstellungen homosexueller Sexualität.

STANDARD: Sie möchten, dass Sexszenen authentischer werden?

Effertz: Ein Klassiker bei Hetero-Szenen ist die Missionarsstellung: Es ist ein Mythos, dass die Frau sofort zum Höhepunkt kommt. Ich frage genau nach, wie realistisch die Darstellung ist. Und wer genau einen Orgasmus hat: er, sie oder beide? Und vor allem, wie?

STANDARD: Und dann herrscht betretenes Schweigen?

Effertz: Man merkt, dass solche Gespräche in unserer Gesellschaft nicht normalisiert sind. Nur weil Schauspielerinnen und Schauspieler möglicherweise privat ein Sexleben haben, wird erwartet, dass sie das auch in der Rolle können. Das würde man bei Kampfszenen nie so handeln.

STANDARD: Kämpfe und Stunts werden schon lange betreut. Warum wurden intime Szenen lange Zeit unterschätzt?

Effertz: Das Thema ist noch immer mit einem Tabu behaftet. Sexuelle Traumata oder Gewalt am Set waren sowieso ein Wegwisch-Thema. Wenn sich dagegen Tom Cruise bei Mission Impossible den Knöchel verstaucht, war das sichtbar, der Dreh musste pausieren. Außerdem haben die hierarchischen Strukturen im Film immer mit hineingespielt. Schon Schauspielerin Marilyn Monroe warnte die junge Joan Collins vor den mächtigen alten Männern Hollywoods. Der Machtmissbrauch war immer da, es ist eine Gemengelage, die da zusammenkommt.

STANDARD: Heute weiß man, dass Übergriffe am Set Teil der Filmgeschichte sind. Kann man mit diesem Wissen noch Der letzten Tango in Paris anschauen?

Effertz: Das muss jeder selbst entscheiden. Wenn ich weiß, was hinter den Kulissen passiert ist, muss ich diesen Filmen nicht mehr Aufmerksamkeit schenken, oft auch aus anderen Gründen. Die Darstellung der Frau und der heterosexuellen Beziehung ist meist aus der Zeit gefallen.

STANDARD: Was hat sich seit #MeToo im Filmbusiness verändert?

Effertz: #MeToo ist in der deutschsprachigen Branche noch nicht aufgearbeitet worden, das sieht man am Fall von Regisseur Dieter Wedel. Im englischsprachigen Raum ist man weiter. Bei HBO ist die Intimitätskoordination heute in allen Produktionen, in denen Intimität dargestellt wird, verpflichtend, bei der BBC seit diesem Jahr. Außerdem wurden dort die Richtlinien gegen Mobbing und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz aktualisiert. Das alles müsste es bei den Öffentlich-Rechtlichen im deutschsprachigen Raum längst geben. Bei der Beschwerdestelle Themis zeigt nur ein Bruchteil der Betroffenen Übergriffe an. Zu groß ist die Angst vor negativen Konsequenzen für die Karriere.

STANDARD: Verändert das Nachdenken über die Darstellung von intimen Szenen auch die Filme?

Effertz: Natürlich, bei den Streaminganbietern sind bereits diversere Formen von Intimität zu sehen, auch dank der Intimacy-Coordinator. Medieninhalte beeinflussen uns. Das spüre ich an dem Feedback, das ich bekomme. Ich gebe gern ein Beispiel: Nach einem Panel kam ein älterer Herr auf mich zu. Er erzählte, seine Frau und er nähmen die Darstellung von Intimität auf den Streamingplattformen als anders wahr. Für das Paar war das ein Anstoß, mehr über die eigenen Wünsche in der Partnerschaft zu reden. Ist das nicht toll? (Anne Feldkamp, RONDO exklusiv, 8.5.2022)