Rauch steigt auf über dem Stahlwerk Azovstal – Russlands Truppen greifen mit Bomben und Raketen an.

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Als "Herz des Krieges" in der Ukraine wird Mariupol bezeichnet, spätestens seitdem die russischen Truppen dem Norden des Landes inklusive der Hauptstadt Kiew zumindest großteils den Rücken kehrten und sich auf die Ostukraine konzentrierten.

Mariupol, einst Universitätsstadt, eines der Wirtschaftszentren des Landes und Zuhause von rund 450.000 Menschen – nach etwa 50 Tagen Belagerung ist es schwer zerstört, trotzdem aber der einzige Ort an der Küste des Asowschen Meeres, der noch nicht vollständig von russischen Truppen kontrolliert wird. Mit Betonung auf noch, denn die Invasoren starteten am Dienstag einen Angriff auf die letzte größere ukrainische Bastion in der Hafenstadt: das Stahlwerk Asow-Stahl.

Den prorussischen Separatisten zufolge machte sich ein russisches Spezialkommando daran, das Werksgelände zu stürmen. Laut ukrainischer Seite wurden dabei Artillerie, bunkerbrechende Bomben sowie Raketen eingesetzt. In dem Werk sollen sich Moskau zufolge rund 2.500 ukrainische Kämpfer befinden, darunter an die 400 ausländische Söldner.

Bereits am Wochenende hatte Russland ein Ultimatum gestellt: Legen die Kämpfer im Stahlwerk die Waffen nieder und ergeben sich, würden sie am Leben bleiben. Das hatten die Soldaten abgelehnt und stattdessen erklärt, weiter Widerstand zu leisten, auch wenn man gegenüber der Gegenseite in deutlicher Unterzahl war. Daraufhin drohte Moskau mit der "Vernichtung" aller Kämpfer im Asow-Stahl-Werk. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte für diesen Fall an, die Verhandlungen mit Russland prompt zu beenden.

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Weiße Flaggen gefordert

Am Dienstag erneuerte Moskau sein Ultimatum und verkündete am Nachmittag eine einseitige Feuerpause. So hätten die gegnerischen Kämpfer Zeit, die weißen Flaggen zu hissen und über einen für sie eingerichteten Korridor das Stahlwerk zu verlassen. Die ukrainischen Einheiten bekräftigten allerdings im Nachrichtenkanal Telegram, dass sie die Waffen nicht niederlegen, sondern weiter für die Verteidigung der Stadt kämpfen würden.

Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, kündigte via Telegram eine Eroberung des Stahlwerks noch am Dienstag an. Die ukrainische Seite hatte zuvor kritisiert, dass Moskau es abgelehnt habe, einen humanitären Korridor für die etwa 1.000 Zivilisten und Zivilistinnen zu ermöglichen, die in dem Stahlwerk Zuflucht gesucht hatten. Russland seinerseits wies Berichte zurück, dass sich auf dem Werksgelände Frauen, Kinder und ältere Männer befänden.

Am Dienstagabend rief Russland für Mittwoch erneut eine einseitige Feuerpause aus. Um 14 Uhr Moskauer Zeit hätten die verbliebenen ukrainischen Kämpfer Gelegenheit, sich zu ergeben.

Das US-Verteidigungsministerium sieht die jüngsten russischen Angriffe im Osten der Ukraine nur als Vorzeichen einer größeren Offensive Russlands. Doch Mariupol hat für beide Seiten eine besondere Bedeutung. Auf ukrainischer Seite hat die Stadt für das ultranationalistisch und teils rechtsextreme paramilitärische Freiwilligenbataillon Asow-Regiment hohen symbolischen Wert – hat man doch dem eigenen Gründungsmythos zufolge Mariupol im Mai und Juni 2014 von prorussischen Separatisten zurückerobert.

Wichtiger Zugang zu Weltmeeren

Für Russland wäre die vollständige Einnahme von Mariupol in mehrerlei Hinsicht von strategischem Wert. Mit der Hafenstadt hätten die von Moskau anerkannten prorussischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk einen eigenen Zugang zu den Weltmeeren und könnten dadurch ihre Produktion auf dem günstigeren Seeweg selbst exportieren, anstatt die teureren Landrouten zu verwenden. Oft wurde auch über den Wert Mariupols diskutiert, um einen direkten russischen Landweg zur 2014 annektierten Krim zu schaffen. Allerdings dürften die weiter nördlich verlaufenden Zugverbindungen weit wichtiger sein als die maroden Straßen über Mariupol – und Erstere kontrolliert Russland bereits.

Außerdem war Mariupol vor dem Krieg für ein Drittel der Stahlproduktion der Ukraine verantwortlich. Der Donezker Separatistenchef Denis Puschilin versprach, die Stadt wiederaufzubauen. Schließlich sind durch den andauernden Widerstand in der Hafenstadt mittlerweile knapp 15.000 Soldaten mit schwerem Gerät gebunden. Diese könnten durch die Eroberung frei werden für Angriffe auf andere strategisch wichtige Städte wie Kramatorsk oder Slowjansk.

Diese laufen im Rahmen der angekündigten russischen Großoffensive im Osten der Ukraine bereits, wie der ukrainische Generalstab mitteilte. Via Telegram erklärte Präsident Selenskyj: "Die Schlacht um den Donbass hat begonnen." Dienstagfrüh berichteten ukrainische Medien von Explosionen entlang der Frontlinien in der Region Donezk sowie unter anderem in den Städten Kramatorsk, Slowjansk, Marinka, Charkiw, Mykolaiw oder Saporischschja. "Die zweite Phase des Krieges hat begonnen", schrieb der ukrainische Stabschef Andriy Yermak auf Telegram. Auch der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, sprach via Facebook von russischen Angriffen. "Es ist die Hölle. Die Offensive, von der wir seit Wochen sprechen, hat begonnen."

Ukraine siegessicher

Olexij Arestowytsch, Berater von Präsident Selenskyj, zeigte sich nichtsdestotrotz überzeugt, dass die russische Offensive fehlschlagen werde. Den gegnerischen Truppen fehle die Stärke, um die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchbrechen. Sie versuchten derzeit, die "empfindlichen Stellen" in der ukrainischen Defensive zu finden, so Arestowytsch. "Ihre Offensive wird scheitern, da gebe ich Ihnen eine 99-prozentige Garantie."

Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu bekräftigte das Ziel, die Ostukraine "befreien" zu wollen: "Wir ergreifen Maßnahmen, um das friedliche Leben wiederherzustellen." Laut Außenminister Sergej Lawrow hat Russland mit einer neuen Phase des Einsatzes begonnen: "Ich bin mir sicher, das wird ein wichtiger Moment in dieser Spezialoperation."

Ausweisung verkündet

Am Dienstag verkündete Moskau zudem die Ausweisung mehrerer europäischer Diplomatinnen und Diplomaten. Unter anderem müssen vier Personen aus Österreich das Land verlassen, teilte das Außenministerium in Moskau mit. Es handle sich um eine Vergeltungsmaßnahme für die vorangegangene Ausweisung russischer Diplomaten. (red, Kim Son Hoang, 19.4.2022)