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PRO: Mit offenen Karten spielen

von Jakob Pflügl

Dass Österreichs Finanzministerinnen und Finanzminister alle paar Jahre die "größte Steuerentlastung der Zweiten Republik" ankündigen können, liegt auch daran, dass sie einen Trumpf im Ärmel haben: Steigen aufgrund der Inflation die Gehälter, rutschen Steuerpflichtige automatisch in höhere Steuersätze. Die Steuerlast wird größer, obwohl die Menschen real nicht mehr verdienen. Bei Gelegenheit kann der Staat dann seinen Joker ziehen und die zusätzlichen Einnahmen großzügig verteilen.

Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) will nun eine Abschaffung dieser kalten Progression diskutieren. Dafür wäre es angesichts der hohen Inflation auch an der Zeit. Denn je stärker die nominalen Gehälter steigen, desto eher wird die schleichende Steuererhöhung zum Problem. Aufgrund der hohen Lohnabschlüsse, die dieses Jahr zu erwarten sind, wäre jetzt der ideale Zeitpunkt, um die langjährige Forderung praktisch aller Parlamentsparteien endlich umzusetzen.

Zugegeben, das aktuelle System hat zweifellos seine Vorteile: Der Polster, der sich Jahr für Jahr aufbaut, bietet Spielraum für gezielte Reformen. Eine Abschaffung der kalten Progression würde zudem nur jene entlasten, die Abgaben zahlen. Menschen mit wenig Einkommen hätten nichts davon. Ein Ende der schleichenden Steuererhöhung stünde künftigen, gezielten Reformen aber keineswegs entgegen. Sie würde den Staat vielmehr dazu zwingen, mit offenen Karten zu spielen. (Jakob Pflügl, 20.4.2022)

KONTRA: Regierung fesselt sich selbst

von Gerald John

Zurückgeben, was die schleichende Steuererhöhung weggefressen hat: Die Idee lässt sich zweifellos gut verkaufen. Doch das ist schon das Beste, was darüber zu sagen ist. Vor allem, wenn das Ziel – wie von Minister Brunner formuliert – die Linderung der Inflation sein soll.

Die Teuerung trifft ärmere Menschen am stärksten, zumal diese einen größeren Anteil des Einkommens für Wohnen, Energie und Nahrung ausgeben müssen. Doch gerade Kleinstverdiener haben von der Abschaffung der kalten Progression gar nichts, da sie keine Lohn- und Einkommensteuer zahlen. Der Löwenanteil des Entlastungsvolumens entfällt stattdessen auf die obere Einkommenshälfte. Gut situierte Menschen können aber steigende Preise nicht nur besser verkraften, sondern haben auch Spielraum, um Energie und Benzin zu sparen – was dem Klima wohltun würde.

Selbst wenn das Aus für die kalte Progression auf die unteren Steuerstufen beschränkt wäre, blieben gute Gründe dagegen. Die permanente Drosselung der Steuereinnahmen beraubt Regierungen der Möglichkeiten, Politik zu machen: Wichtige Investitionen, etwa in Schulen, Pflege und öffentlichen Verkehr, wären ebenso schwerer zu stemmen wie gezielte, anlassbezogene Entlastungen. Ob Familienbonus oder ökosoziale Steuerreform: Beides wäre in dieser Form unter den geänderten Bedingungen wohl nicht finanzierbar gewesen. (Gerald John, 20.4.2022)