Ein Reise nach Moskau sei für ihn "schlicht und einfach ausgeschlossen", sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Interview mit Pjotr Wersilow.

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Der ukrainische Präsident gab zum ersten Mal seit Kriegsbeginn vor Ort in Kiew einem russischen Journalisten ein Interview. Der Herausgeber des unabhängigen russischen Mediums "Mediazona", Pjotr Wersilow, der an einem Dokumentarfilm über den Krieg arbeitet, sprach mit Wolodymyr Selenskyj über die Beziehungen der Ukraine zu Russland und darüber, ob sich diese je wieder normalisieren werden. DER STANDARD bringt in Kooperation mit "Mediazona" eine deutsche Übersetzung des Interviews.

In letzter Zeit wurde viel darüber gesprochen, wie sich die Haltung der Ukraine zu den Russen verändert hat. Was würde es Ihrer Meinung nach brauchen, damit sich dieses Verhältnis irgendwann wieder normalisiert? Was müssen Russland und insbesondere das russische Volk machen?

Selenskyj: Das ist eine sehr komplizierte Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie heute überhaupt beantworten kann. Ich schätze, dass keiner jetzt eine Antwort parat hätte. Der Beginn dieses Weges hängt von der russischen Bevölkerung ab. Die russischen Bürger müssen die eigene Schuld einräumen, dass sie dem ukrainischen Volk nicht zugehört haben. Sie müssen zugeben, dass sie getötet haben. Sie müssen endlich mit diesem Gerede aufhören von wegen "Das sind nicht wir gewesen, sondern die anderen". Russland muss gestehen, dass eine Tragödie geschehen ist: Die Ukraine wurde angegriffen, ein Teil des Landes wurde besetzt und ausgeraubt, die Menschen wurden umgebracht und brutal niedergemetzelt. Diese Schuld einzuräumen wäre einer aufrichtigen Beichte in der Kirche ähnlich.

Auf eine Wiedergutmachung könnten sich die zukünftigen Generationen eventuell einigen. Die Schuld einzugestehen heißt aber nicht auszusprechen, was passiert ist, sondern vor allem diesen Angriffskrieg zu beenden. Danach muss Russland sagen: "Ja, wir haben euch viel genommen. Was muss jetzt für eine mögliche Wiedergutmachung getan werden?" Das wäre vielleicht der Anfang dieses Weges.

Aber was könnte jetzt unternommen werden? Sieht man in der Ukraine derzeit etwas in Russland, was auf diesen Neuanfang hindeuten würde?

Selenskyj: Nein, derzeit deutet nichts darauf hin, dass etwas seitens der russischen Bevölkerung unternommen wird. Es gibt nur wenige russische Staatsbürger, die sich klar gegen den Krieg positionieren. Man muss sich das Erschreckendste vor Augen führen: dass die einfachen Leute in Russland diesen Krieg unterstützen. Und es geht um einen großen Teil der Bevölkerung. Deshalb kann man in Russland nicht sagen, dass man unschuldig sei, nur weil man keine Waffe in der Hand gehabt hat. Selbst wenn man nicht persönlich abdrückt, heißt das nichts.

"Dieses Blutbad lässt sich nicht einfach wegwischen", sagt Wolodymyr Selenskyj.
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Die politische Führung Russlands hat einen katastrophalen Fehler begangen und durch ihre Propaganda das ganze russische Volk in die Verantwortung mitgezogen. Indem die politische Führung Russlands sämtliche momentan in Russland lebenden Generationen der Propaganda dieses Blutbades ausgesetzt hat, sind jetzt alle historischen und kulturellen Errungenschaften Russlands infrage zu stellen.

Von nun an wird man sich in vielen Ländern nicht mehr mit der Frage beschäftigen, ob jemand ein guter oder schlechter Russe ist. Man wird pauschal alle Russen schlecht behandeln. Das hat Russland erreicht. Mich geht das ja letztendlich nichts an, aber das sollte das russische Volk schon erschrecken. Russland hat viele Errungenschaften, Entdeckungen, Künstler, Intellektuelle, Wissenschafter zustande gebracht. Aber nach diesem Blutbad wird das die Leute nicht mehr interessieren, da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube, das ist wohl die größte Niederlage Russlands in diesem Krieg. Die ganze Zeit haben russische Politiker von historischen Schritten, Gerechtigkeit, Kampf gegen Nazismus und was auch immer gesprochen. Aber dieses Blutbad lässt sich nicht einfach wegwischen. Es ist unmöglich, das zu vergeben. Werden jetzt die ukrainischen Familien, die jemanden verloren haben, den Russen verzeihen? Nein, werden sie nicht. Und dessen muss man sich bewusst sein.

Wie war es damals mit NS-Deutschland? Warum hat man weggesehen, als die Nazis die Juden mitten in der Stadt in die Knie gezwungen und erschossen haben? Wie konnte das sein? Weil die Menschen Angst um sich hatten. Viele Deutsche hatten Angst vor den Nazis, aber einige waren doch bereit, etwas zu opfern und sind ein Risiko eingegangen dadurch, dass sie Juden geholfen und sie versteckt haben. Manche haben damals Zettel gegen die Nazis geschrieben und sie irgendwo platziert. Es geht ja beim Widerstand gegen den jetzigen Krieg auch um diese kleinen Schritte.

In Russland behauptet man, dass ein Einzelner jetzt nichts machen könne.

Selenskyj: Viele behaupten, selbst wenn man jetzt auf den Roten Platz geht, würde einen niemand hören. Man wird schließlich sofort festgenommen. Aber es würde sehr wohl jemand hören: Die Kinder und Enkel dieser Menschen würden es hören und sagen: "Mein Vater hat dagegen protestiert, er ist festgenommen worden." Man kann nicht sagen, dass man in Russland jetzt nichts gegen den Krieg machen kann. Das stimmt einfach nicht.

Wie stellen Sie sich die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland in 20 Jahren vor? Wie müsste die Welt aussehen, damit Sie Moskau irgendwann wieder besuchen können?

Selenskyj: Ich bin davon überzeugt, dass ich in 20 Jahren nicht mehr als Präsident über die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland nachdenken werde müssen. Aber als Bürger werde ich mir schon noch Sorgen darum machen müssen. Mir ist ja nicht egal, was in Zukunft mit meinem Land passiert.

Es wird in 20 Jahren in Russland bestimmt andere Politiker geben. Vorausgesetzt, dass ein anderer Präsident diese Blase der Propaganda, nach der die Menschen in Russland süchtig geworden sind, platzen lässt. Ich glaube, das russische Volk wird schon in drei bis fünf Jahren den Tatsachen ins Auge blicken müssen. Vor allem dank der neuen Informationstechnologien, die sich sehr schnell entwickeln.

Jedoch wird sich bestimmt ein Teil der Bevölkerung mit der Wahrheit über diesen Krieg nicht abfinden wollen. Nicht alle sind imstande, zu eigenen Fehlern, insbesondere zu solch blutigen Fehlern, zu stehen. Ein anderer Teil wird schon das Augenlicht wiederfinden. Die Intelligenzija wird plötzlich die Realität sehen und sich Asche aufs Haupt streuen. Viele Russen werden anfangen, das Ausmaß dieses Krieges zu begreifen. Und dann liegt es bei den Russen und dem russischen Staatsoberhaupt, eine richtungsweisende Entscheidung zu treffen. Das russische Staatsoberhaupt muss klar kommunizieren: "Wir sind bereit, zu dem Krieg und zu den Kriegsverbrechen zu stehen." Das wäre ein sehr wichtiger Schritt. Die Russen müssen dabei hinter diesem Staatsoberhaupt stehen, weil sie ihn oder sie gewählt haben. Es wäre wirklich der erste Schritt zu sagen, dass der Krieg geschehen ist. Das wäre eine Grundlage dafür, dass die Politiker Russlands und der Ukraine wieder ins Gespräch kommen könnten. Das wird zweifelsohne irgendwann passieren. Je früher, desto mehr würde uns das freuen.

Wäre es in so einer Welt für Sie möglich, nach Moskau zu kommen?

Selenskyj: Der Zweck heiligt die Mittel. Im Namen meines Landes wäre ich bereit, jeden Ort dieses Planeten aufzusuchen. Aber bestimmt nicht jetzt und sicher nicht Moskau. Das ist schlicht und einfach ausgeschlossen. Nichtsdestotrotz wäre unter anderen Umständen und mit anderen Regierenden in Moskau alles möglich. (Pjotr Wersilow, Übersetzung: Vitaly Vasilčenko, "Mediazona", 21.4.2022)

Das Interview mit englischen Untertiteln.
Медиазона

Das gesamte Interview in russischer Sprache:


«Факт бойни никуда не убрать». Интервью Владимира Зеленского «Медиазоне»

Президент Украины Владимир Зеленский впервые с 24 февраля лично встретился в Киеве с российским журналистом — издателем «Медиазоны» Петром Верзиловым, который вместе продюсером Бо Уиллимоном взял у него интервью для документального фильма о войне. «Медиазона» публикует ответы на три вопроса — Зеленский рассказывает, когда, по его мнению, отношение украинцев к России начнет меняться, слышат ли в Киеве голоса россиян, протестующих против войны, и готов ли он сам в будущем приехать в Москву.

Pjotr Wersilow führte das Gespräch mit Wolodymyr Selenskyj während der Arbeit für einen Dokumentarfilm über den Krieg in der Ukraine.
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Много говорилось о том, как изменилось отношение к русским, к россиянам. Как вы чувствуете, чтобы отношение к русским, к России, стало другим, чтобы оно изменилось опять, что нужно? Что должны сделать россияне и что должна Россия сделать, чтобы все стало по-другому?

Владимир Зеленский: Это очень сложный вопрос. Я не уверен, что на него вообще есть сегодня ответ. Я думаю, что ни у кого его нет. Вопрос только в начале пути к этому результату.

Начало пути. Но дело в том, что начало пути не зависит ни от кого, кроме граждан России. Потому что надо признать вину, что не слышали. Признать вину, что не хотели, кто-то не хотел слышать. Признать вину, что убивали. «Не они, а кто-то другой» — перестать играть в эту историю. Признать, что совершена трагедия.

Совершена трагедия вообще. Напали, отобрали часть земли, отобрали людей, жизни забрали, просто убивали, и жестоко, жестоко. Признать это — это как пойти в церковь, как на духу сказать, исповедаться. Это нормально. Я считаю, что мы не решаем уже. Бог простит или не простит — это уже вопрос не к нам. Я уверен.

И смогут, наверное, о чем-то договориться следующие поколения. Но это нужно признать. Признать — это не слова. Это не слова. Это — остановиться. Сказать: «Ну, мы много всего забрали. А что мы должны сделать, чтобы это вернуть?». И тогда это начало этого пути, наверное.

А какие действия могут быть предприняты? Чувствуются эти действия, возможно, сейчас?

Владимир Зеленский: Нет, сейчас никаких таких действий нет. Есть некоторые люди, граждане Российской Федерации, которые уехали из страны, и где-то там... Есть люди, как [актриса Лия] Ахеджакова, она в стране находится, но мы видим ее обращения. Хоть и заблокировано одно, второе, третье направление тех или иных соцсетей — все равно, знаете, вода камень точит, все пролезает, все равно, да? И мы видим ее позицию.

Неважно, что человек живет в Российской Федерации, какая разница, где человек живет. И какая разница, какой у человека паспорт. Но вот она говорит — она признает, что катастрофа, и у нее антипутинское настроение. Антивоенное настроение.

Вы ведь посмотрите, что страшно — страшно, что обычные люди в России, многие обычные люди поддерживают это. Высокий процент. Вот это же страшно. Ведь нельзя же потом, после того, как ты поддерживаешь это, потом сказать: «Так у меня не было в руках ружья». Было, было. У тебя был автомат. То, что ты не нажимаешь на курок — это ни о чем не говорит. Вот, мне кажется, такие вещи — они должны быть. Они важны.

Совершена катастрофическая ошибка группы людей. Которые засосали, благодаря информационной политике, в это целый народ. И, повергнув живые на сегодня поколения Российской Федерации вот в эту дезинформацию и эту бойню — потому что это не война, это бойня — они поставили под вопрос вообще исторические вещи, культурные вещи и так далее.

Теперь многие, во многих странах, не будут спрашивать — хороший ты парень или плохой. Просто будут реагировать так на русских. Вот что сделали страшное. Это не для меня страшно, это для этого народа страшно, я так считаю. Потому что много было в истории разных вещей, открытий, культуры, художников, ученых — много всего было. После бойни, как правило, люди не хотят это все слышать. Не хотят, я уверен в этом. Мне кажется — это самый большой удар.

Вот они все время, политики российские, все время говорили про исторические шаги, про справедливость, про борьбу с нацизмом, что только ни говорили — но ведь факт бойни никуда не убрать. И это невозможно простить.

Поэтому история про то, что… Вот семьи, которые кого-то потеряли, простят? Не простят. Мы же с вами это понимаем.

Как это было с нацистской Германией? Мы же это понимаем. Мы понимаем, что это не все население. Ну а кто, кто хочет это услышать? А кто хочет в этом разбираться? А почему ты молчал, а почему ты проходил мимо? А почему, когда нацисты расстреливали евреев, ставили их на колени прям в центре города, а почему ты, прячась за чем-то — мол, я не хочу это видеть — проходил мимо? А почему? Да, ты боялся. Боялся, но кто-то из них проходил мимо и продолжал бояться, а кто-то жертвовал, а кто-то прятал евреев. А кто-то где-то тихонько что-то написал, какую-то листовку, и развесил. Да, маленькие шаги.

Тебе кажется, что ты — да что я могу, чем я могу помочь, я обычный человек, я выйду на площадь на Красную или куда там выходят с забастовками, на Манежную... Я выйду, кто меня услышит, меня заберут автозаки!

Услышит. Услышит.

По крайней мере, твои дети и твои внуки услышат, и скажут: «Мой папа, а он выходил, его забрали». Но никто никогда не скажет, что он ничего не сделал — это невозможно, это неправда. Все все видят. Вот поэтому долгий путь.

Как вы представляете себе взаимоотношения Украины с Россией через 20 лет? И каким должен быть мир, в котором, например, вы смогли бы приехать в Москву?

Владимир Зеленский: Через 20 лет, уверен, не я буду думать про отношения между Украиной и Россией. Точно буду переживать. Мне не все равно, что с моей страной происходит. И точно не все равно, какие отношения с соседями, с разными соседями. Через 20 лет, ну, в России будет другой президент. И в Украине тоже. В Украине я вообще уверен. А у вас… мало ли что там у вас происходит? (смеется) Технологии... Даже смешно представить, что у вас будет тот же президент, но Бог его знает.

Я не хочу вас обидеть. Конечно же, будут другие люди. И если, еще раз, если руководство страны — а знаете, как иголочкой дети балуются и бьют эти шарики воздушные, надувные — вот если другой президент лопнет шарик информационный, в котором народ сидит, то народ за лет — информационные технологии быстрые — я думаю, за три-пять лет прозреет.

А часть из них так и не примет это, к сожалению. Потому что признавать ошибки, особенно такие кровавые ошибки, невозможно. Но часть прозреет. Интеллигенция прозреет, будет рвать на голове волосы — те, кто останутся к этому моменту. Но, конечно же, прозреют. И вот тогда будет этот выбор, о котором я вам сказал. Выбор и руководителя страны, и народа.

Руководитель: «Мы готовы это признать». Руководитель должен будет сделать этот шаг. Этот очень важный шаг. А народ должен будет навстречу к руководителю, потому что они же его выбирали, или ее, я не знаю. В общем, сказать: «Да, это было». Это будет первый большой шаг для того, чтобы политики встречались. И политики, конечно же, будут встречаться. Если это произойдет раньше — мы только будем рады.

В таком мире вы смогли бы приехать в Москву?

Владимир Зеленский: Ну, знаете как — цель оправдывает средства. Я во имя нашей страны готов в любое место планеты поехать, но точно не сейчас и точно не в Москву. Это просто невозможно. Но, конечно же, при других людях и при других обстоятельствах, наверное, все возможно. Но удовольствия после всего, что произошло, мне это точно не доставит. (Петр Верзилов/Медиазона, 21.4.2022)