Auf den Gemeindetafeln wurden alle Poster, bis auf jene der Stichwahlkandidaten Macron und Le Pen, entfernt. Viele Wähler des drittplatzierten Linken hängen in der Luft – und zögern, Macron zu unterstützen.

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Abdrücke von Arbeitsschuhen, Zigarettenstummel im Aschenbecher – all das erweckt den Anschein, dass auf dem Gelände der US-Firma Whirlpool im nordfranzösischen Amiens jüngst noch reger Betrieb herrschte. Doch die schon fast zersetzte Bananenschale auf dem Boden erinnert daran, dass die Arbeiter das Werk am Stadtrand schon lange verlassen haben.

Das verwahrloste Areal samt den gähnend leeren Lagerhallen gilt als Sinnbild für die Deindustrialisierung Nordfrankreichs und den hiesigen Politikfrust. Denn Whirlpool ist nicht irgendeine Firma und Amiens nicht irgendeine Stadt: Sie ist die Geburtsstadt von Emmanuel Macron, der um seine Wiederwahl kämpft. Der französische Präsident hat 2017 unter anderem mit dem Versprechen, ebendieses Werk zu retten, die Wahl gewonnen – doch jetzt ist es geschlossen.

Hinter den Laderampen offenbart sich gähnende Leere.
Foto: Flora Mory

Der US-Hersteller für Haushaltsgeräte verkündete damals – wie so viele multinationale Unternehmen im Norden zuvor –, seinen französischen Standort zu schließen und ihn nach Polen zu verlagern. Der Protest der rund 300 Angestellten wurde zum zentralen Wahlkampfthema: Macron versprach aus ein paar Kilometern Entferung eine Lösung. Und dann tauchte plötzlich seine rechtspopulistische Rivalin Marine Le Pen direkt am Firmenparkplatz auf, um sich auf Fotos mit den streikenden Angestellten als Kandidatin der Arbeitenden darzustellen.

Wunsch nach Veränderung

Heute – genau fünf Jahre später – herrscht auf dem Werksgelände Totenstille. Der lokale Unternehmer, der den Betrieb mit staatlicher Hilfe weiterführen sollte, ist zum Missfallen des Präsidenten gescheitert und muss wegen Veruntreuung für zehn Monate hinter Gitter. Macron und die 2017 unterlegene Le Pen liefern sich erneut Medienschlachten darüber, wer die Arbeitenden besser vertritt – aber diesmal im Fernsehen und nicht im Arbeiterviertel von Amiens, wo sich die Bewohner von der Politik vernachlässigt fühlen und zunehmend auch Linke-Wähler mit Le Pen liebäugeln.

"Macron hat versprochen, Frankreich zu verändern, aber er hat hier nichts Gutes angerichtet", sagt die Krankenschwester Laurence dem STANDARD. Sie wohnt in der Nähe des alten Whirlpool-Werks in dem Viertel, das fast ausschließlich aus zweistöckigen Backsteinreihenhäusern besteht. Auch in der Familie hat die Schließung des Werks zu Jobverlusten geführt: "Was tun, wenn man 50 Jahre alt ist und nach Jahrzehnten im Unternehmen vor die Tür gesetzt wird?", fragt Laurence – so sei es der Mutter des Schwiegersohns ergangen, die dann jahrelang arbeitslos blieb.

Die Vorstellung, dass Macrons Amtszeit verlängert werden könnte, macht Laurence Sorgen. Aber die Linke-Wählerin hat auch Bedenken, Le Pen zu wählen.
Foto: Mory

Und Macron sage, man brauche nur über die Straße zu gehen, um einen Job zu finden, fügt sie kopfschüttelnd hinzu: "Er ist der Präsident der Reichen." Sie könne sich von ihrem Gehalt weder Restaurantbesuche noch Urlaube leisten – die Preissteigerung würden sogar Tomaten zum Luxusgut machen. Eine Maniküre sei das höchste der Gefühle, sagt sie und betrachtet die türkisen Fingernägel. Diese Präkarität sei kein Dauerzustand.

Linke zögert stärker, Macron zu unterstützen

Laurence hat wie 22 Prozent der Franzosen im ersten Wahlgang den Linken Jean-Luc Mélenchon gewählt und steht jetzt vor einer schwierigen Wahl: Macron kommt für sie anders als 2017 keineswegs mehr infrage, denn es brauche Veränderun. Und Le Pens "soziales" Programm sage ihr zwar zu, aber: "Ich will nicht, dass man mir nachsagt, ich sei Rassistin. Ich habe Muslime in der Familie." Sie werde wohl erst am Wahltag entscheiden.

Unzählige Wähler Mélenchons fühlen sich von den zwei zur Wahl stehenden Kandidaten nicht vertreten: Hochschüler blockierten deshalb Pariser Universitäten. Und am Samstag gingen landesweit Zehntausende auf die Straßen, um gegen die extreme Rechte zu demonstrieren, sie skandierten aber auch: "Ni Le Pen, ni Macron!" Auf gut Deutsch: weder die eine noch der andere. Als Grund wird zumeist Macrons soziale Härte angegeben. Ausgerechnet diese Wähler gelten aber bei der Stichwahl am Sonntag als Schlüssel zum Sieg.

Le Pen versucht linke Arbeiter zu locken

2017 hat noch die Hälfte der Linke-Wähler für Macron gestimmt – und nur sieben Prozent für Le Pen. Laut Meinungsforschern dürfte heuer ein Drittel der Mélenchon-Wähler für den Amtsinhaber stimmen, aber nun auch rund 16 Prozent für Le Pen. Der Rest will weiß wählen oder den Urnengang gar auslassen. Dennoch liegt Macron in den Umfragen mit rund 56 Prozent klar vorne. Nach Angaben ihres Beraterstabs hat es Le Pen nun auf linke Arbeiter abseits der urbanen Zentren abgesehen und nicht die ideologische Linke, die im Gegensatz zu Le Pen auch für eine kulturelle Liberalisierung steht. In einigen alten Bastionen der Sozialisten und Kommunisten in Nordfrankreich ist ihr das schon 2017 gelungen.

Auch in der Somme, dem Département, zu dem Macrons Geburtsstadt gehört, hat Le Pen längst die Nase vorn. Denn wie im Gros Frankreichs stimmt auch hier die rurale Bevölkerung bevorzugt für sie. In der Region liegt auch Hardecourt-aux-Bois – jene winzige Dorfgemeinde, in der Le Pen ihren nationalen Höchstwert von fast 80 Prozent erreichte. Macron, dessen Wähler sich inzwischen mehrheitlich als rechts bezeichnen, lag im ersten Wahlgang nur mehr in den wohlhabenderen Vierteln rund um Amiens auf Platz eins – insgesamt aber hinter Le Pen. Und in der Stadt selbst hat Mélenchon, wie in vielen Ballungsräumen, Macron vom Thron gestoßen.

Das verwahrloste Whirlpool-Areal.
Foto: Mory

"Ich mag sie beide nicht", sagt Bastien, der Inhaber einer Bar im Zentrum von Amiens, als die TV-Debatte zwischen Le Pen und Macron am Mittwochabend startet, und dreht den Fernseher ab. Auch er gibt sich als Sympathisant der Linken zu erkennen: Er zweifelt daran, ob er überhaupt wählen soll. Von einem Heimvorteil kann für den Sohn der Stadt keine Rede sein. (Flora Mory aus Amiens, 22.4.2022)