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Für Geflüchtete ist es zentral, dass für sie sichere Strukturen geschaffen werden, sagt Barbara Preitler.

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STANDARD: Es heißt, sexualisierte Kriegsgewalt habe die Funktion, eine Gesellschaft zu zersetzen. Was bedeutet das genau?

Preitler: Bei dieser Gewalt geht es unter anderem um Reproduktion. Wenn Frauen vergewaltigt und schwanger werden, dann zielt das auch auf eine Zerstörung der nächsten Generation ab, denn in einer patriarchalen Gesellschaft gehört dieses Kind zur Vatergruppe. Das passiert zum Teil unbewusst, aber auch bewusst, etwa im Bosnienkrieg. Damit gibt es keine nächste Generation der ethnischen Gruppe, die man nicht mehr haben möchte.

STANDARD: Womit kämpfen von sexualisierter Kriegsgewalt Betroffene?

Preitler: Das hängt davon ab, wie eine Gesellschaft mit dieser Gewalt umgeht. Wir haben nach wie vor Konfliktherde auf der Welt, wo betroffene Frauen sich nie trauen, darüber zu reden. Nicht weil sie Angst vor dem ursprünglichen Aggressor hätten, sondern vor den Männern der eigenen Gruppe, da ihre "Reinheit" nicht mehr gegeben ist. Generell ist es so, dass wenn es um einen Intimbereich geht, es umso schwerer ist, es öffentlich zu machen, es nach außen zu tragen. Sexualisierte Gewalt richtet sich auch gegen Männer, für sie ist das Erlebte oft noch unaussprechbarer, weil ihnen etwas passiert ist, das sie bis dahin für unmöglich gehalten haben. Diese Gewalt gegen Frauen hat eine andere Funktion als gegen Männer. Es geht zwar bei beiden um Demütigung, bei Männern geht es auch stark um die Zerstörung der Potenz, auch im übertragenen Sinn: Es geht um die Zerstörung von Kraft, Kreativität und Gestaltungsmöglichkeit.

Barbara Preitler ist Psychotherapeutin, Lehrende und Autorin und arbeitet an der Abteilung für Sozialpsychologie, Ethnopsychoanalyse und Psychotraumatologie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Ihre Schwerpunkte sind Extremtraumatisierungen, wie sie durch Folter und Krieg entstehen, interkulturelle psychologische und therapeutische Betreuung. 1994 hat sie den Verein Hemayat zur Betreuung von Folter- und Kriegsüberlebenden mitgegründet.
Foto: Jana Kaunitz

STANDARD: Wie kommt es zu sexualisierter Gewalt in Kriegen?

Preilter: Ich habe mich weniger mit der Täterpsychologie als mit den Betroffenen befasst. Aber meine Vermutung ist, dass es mit einer Grundstimmung in Kriegen zusammenhängt. Es setzt eine große Aggression gegenüber einem vermeintlichen Gegner voraus, damit man überhaupt in einen Krieg zieht. Vor allem braucht es den Gedanken, dass die anderen nicht die gleiche Menschenwürde haben wie ich. Das sind Mechanismen der Entmenschlichung.

STANDARD: Was löst Retraumatisierungen aus?

Preitler: Nachrichten und die Bilder, die sehr ähnlich zu dem sind, was Betroffene erlebt und gesehen haben. Für syrische Menschen zum Beispiel sehen die Bilder aus der Ukraine nicht so anders aus als das, was sie in Aleppo erlebt haben. Eine Strategie, Retraumatisierungen vorzubeugen, ist ein gezielter Medienkonsum, etwa Nachrichten über das geschriebene Wort zu konsumieren. Bilder wirken stärker als die Abstraktion des Wortes. Für Menschen aus der Ukraine ist es jetzt wichtig, das richtige Maß zu finden. Gar nicht informiert zu sein führt auch zu Unsicherheit und Hilflosigkeit.

STANDARD: Was können Staaten für Geflüchtete tun, die womöglich sexualisierte Kriegsgewalt erlebt haben?

Preitler: Diese Gewalt ist eine Form von Folter, und wir müssen allen, die vor Krieg und Folter fliehen, das Gefühl geben, willkommen zu sein. Es ist gut, dass es jetzt diese Willkommenskultur für Menschen aus der Ukraine gibt, die brauchen wir aber für alle. Lange Asylverfahren sind oft retraumatisierend, deshalb müssten sie rasch abgewickelt werden. Um sich subjektiv wieder sicher fühlen zu können, braucht es eine objektive Sicherheit.

STANDARD: Was können Helfende tun?

Preitler: Sicherheit schaffen und Grenzen beachten. Vorsichtig mit Körperkontakt sein und die Privatsphäre respektieren, auch in Großquartieren. Und bevor man Fragen stellt, lautet meine Faustregel: Immer checken, wer die Frage braucht. Die Person oder ich? Es ist berechtigt, dass wir wissen wollen, wer die Menschen sind und dass man empathisch sein will. Aber wenn man von jemandem annimmt, dass er oder sie traumatisiert sein könnte, dann soll man keine Fragen stellen, mit denen man möglicherweise ins traumatische Geschehen hineinkommt. Als Privatperson oder Hilfsorganisation kann ich es den Betroffenen überlassen, wie viel sie von ihrem Schicksal mitteilen wollen. (Beate Hausbichler, 22.4.2022)