Natalia Gumenjuk im März in Charkiw.

Foto: Andrii Bashtovyy

Für Natalia Gumenjuk war die Frage nicht, ob sie in der Ukraine bleibt, sondern wie nahe sie an die Front reisen soll, um berichten zu können. Die 38-jährige Reporterin aus Kiew schreibt seit acht Jahren über den Krieg in ihrem Heimatland – die russische Besetzung des Donbass und der Krimhalbinsel. "Zu Beginn des Einmarschs gab es noch die leise Hoffnung, dass sich alles auf den Donbass beschränken wird", erzählt Gumenjuk im STANDARD-Gespräch im Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen. Doch als die Bomben aus Moskau auf die ukrainische Hauptstadt niedergingen, war ihr klar, dass der Krieg sich ausweiten und andauern wird.

Überrascht war Gumenjuk vor allem davon, wie "offenkundig und dumm" die russische Seite diesmal operiert hat: "Der Kreml hat alle Karten auf den Tisch gelegt und nicht einmal versucht, etwas zu vertuschen." Zwei Jahre habe die Ukraine versucht, dem Westen zu beweisen, dass Russland bereits auf die Krim und in den Donbass einmarschiert ist, es nicht um Separatisten oder die angebliche Selbstbestimmung der Bewohner der Krimhalbinsel geht. Jahre habe man damit vergeudet, wie die Journalistin sagt. Der Westen habe die russische Scharade mitgespielt. Mit dem Überfall im Februar sei es allen mit einem Schlag klar gewesen.

Verbrannte Erde

Warum der russische Präsident Wladimir Putin diesmal auf das Täuschungsmanöver verzichtete hat? "Aufgrund der eigenen Arroganz und weil man die ukrainische Bevölkerung falsch eingeschätzt hat", sagt Gumenjuk. Man müsse kein russischer Geheimdienstoffizier in Kiew sein, um zu wissen, dass sich die Ukraine Russland nicht unterwerfen würde: "Moskau hat irgendwann seine eigene Fiktion geglaubt."

Die russische Armee sei auch von der eigentlichen Taktik abgegangen, kritische Infrastruktur zu zerstören und dann Ortschaften einzunehmen. "Als klar wurde, dass sich die Menschen nicht ergeben, wurden die Dörfer dem Erdboden gleichgemacht", sagt Gumenjuk. Die Ukrainer hätten begriffen, dass russische Besatzung ebenso schlimm wie Beschuss sei. Es werde nun die "Taktik der verbrannten Erde" angewandt: "Es geht nur noch um die Symbolik, die Orte einzunehmen", sagt sie.

Ob der Donbass verloren gehen werde? "Nein", sagt Gumenjuk entschieden. Zwar werde die Ukraine nicht alle Landstriche halten können, aber das Schicksal des Donbass sei noch nicht entschieden. "Um manche Gegenden zu halten, müssten zu viele Menschen sterben", sagt die Journalistin und beruft sich auf Interviews mit Militärexperten. Dafür würden einige Orte zu grenznah liegen. Die russischen Truppen könnten sie einkesseln. Auf der anderen Seite dürfe man nicht vergessen, dass sich die erfahrensten Truppen der Ukraine im Donbass befänden.

Kriegsverbrechen dokumentieren

Gumenjuk schreibt seit Jahren über das Gebiet, seit dem Einmarsch hat sich die Berichterstattung verändert: "Habe ich zuvor über mögliche Friedensverhandlungen geschrieben und darüber gesprochen, dass es immer einen Platz für sie gibt, musste ich herausfinden, dass es einen solchen im Moment nicht gibt." Zusätzlich zu den Vor-Ort-Berichten dokumentiert Gumenjuk mit ihrem Team Kriegsverbrechen. Dafür sei es wichtig, immer wieder zu den Menschen und ihren Geschichten zurückzukehren, nicht nur die Schlagzeile zu jagen: "Nach Mariupol und Butscha war ich besorgt, dass es nun um die Eskalation des Kriegs geht", sagt sie, "und man immer mehr Opfer für die Berichterstattung braucht." Dabei sei es wichtig, vielfältige Geschichten zu erzählen. Neben dem Leid auch die hoffnungsvollen Berichte zu liefern. Jene des Wiederaufbaus und des Widerstands.

Ob sich die ukrainische Gesellschaft durch den Einmarsch verändert hat? "Nicht verändert, aber sie hat sich gezeigt", sagt Gumenjuk. Es herrsche mehr Einigkeit. Aufgrund der existenziellen Gefahr würde vieles in den Hintergrund rücken. Es gebe ein starkes Gefühl von Staatszugehörigkeit: "Dieses Land ist uns wichtig, wir sind die Bewohner", fasst die Reporterin die Stimmung zusammen. Und auf die Frage, worum sie kämpfen, würden viele – egal welcher politischen Einstellung – antworten: "Um unser Recht, zu wählen." (Bianca Blei, 22.4.2022)