Gerszon Kupferblum musste die Durchsetzung der Justiz mit ehemaligen
Nationalsozialisten am eigenen Leib erfahren.
Foto: Kupferblum

Es ist für mich eine große Ehre, an einer Veranstaltung teilzunehmen, in der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gewürdigt wird. Und ich danke Herrn Professor Rathkolb für die Einladung, anlässlich der Ausstellung über Bauers Kampf gegen die lange von ehemaligen Nazis mitgeprägte deutsche Justiz auch an die damalige Situation in Österreich zu erinnern.

Fritz Bauer sagte einmal über seine Kollegenschaft: "Wenn ich mein Amtszimmer verlasse, betrete ich Feindesland." Aus Österreich ist ein Ausspruch dieser Art nicht überliefert. Denn in der österreichischen Justiz gab es keinen Menschen wie Fritz Bauer. Man war ungestört.

In den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts recherchierte ich die Affäre Kupferblum. Der "Kurier" nannte sie den größten Justizskandal der Nachkriegszeit, ein "Presse"-Journalist verglich sie sogar mit der Dreyfus-Affäre.

Verblüffende Gesetzesbrüche

Ein sehr komplizierter Fall in aller Kürze: Mitte der 50er-Jahre schien Gerszon Kupferblums Name in der Korrespondenz eines Kaufmanns auf, der gemeinsam mit anderen wegen einer Betrugscausa angeklagt war. Kupferblum konnte zwar nachweisen, dass er mit der Angelegenheit nichts zu tun hatte, trotzdem wurde er zu zweieinhalb Jahren schweren, verschärften Kerkers verurteilt.

Im Urteil stehen kafkaeske Sätze wie: "Soweit vorliegende Korrespondenzen, Belege, Quittungen usw. mit den getroffenen Feststellungen nicht im Einklang stehen, sind diese Unterlagen ohne Beweiskraft, weil sie wahre Vorgänge verdecken sollten."

Dr. Kupferblum war Jurist und wehrte sich. Die Justiz jedoch deckte ihre Fehlentscheidungen, indem sie durch alle Instanzen hindurch immer wieder neue – zum Teil verblüffende – Gesetzesbrüche beging. Der Oberste Gerichtshof zum Beispiel lehnte die Nichtigkeitsbeschwerde Kupferblums ab, mit Behauptungen wie: "Es ist nicht erforderlich, dass die vom Gerichte gezogenen Schlüsse zwingend sind."

Rehabilitiert wurde Kupferblum bis heute nicht.
Foto: Kupferblum

Erwähnenswert ist wohl, dass vom Untersuchungsrichter über den Staatsanwalt durch alle Instanzen bis zum Obersten Gerichtshof immer wieder ehemalige Mitglieder der NSDAP in die Causa involviert waren. Kupferblum war Jude, staatenlos, er sprach mit polnischem Akzent.

Als er einmal einen der Staatsanwälte mit NS-Vergangenheit wegen Befangenheit abzulehnen versuchte, erklärte sich dieser kurzerhand für nicht befangen und verfolgte Kupferblum auch noch in eigener Sache.

Antisemitisches Gutachten

Da Kupferblum nicht klein beigab, wurde er wegen Verleumdung geklagt, die er dadurch begangen haben soll, dass er die Vorgangsweise der Justiz in seinen Eingaben dokumentierte. Schließlich sperrte man ihn wegen "Wiederholungsgefahr der Verleumdung" in Untersuchungshaft, zur "Wahrung des Ansehens der Justiz", wie man es formulierte.

Da saß er 14 Monate lang, aber Kupferblum kämpfte weiterhin für sein Recht, also beschloss man, ihn psychiatrieren zu lassen. Man hatte dafür einen Experten aus Innsbruck, der in der Nazizeit Direktor des dortigen Instituts für Rassenhygiene war.

Sein Gutachten strotzte vor antisemitischen Bemerkungen, und es lieferte das maßgeschneiderte Ergebnis: Kupferblum, den ich als hochintelligenten und souveränen Gesprächspartner kennengelernt hatte, wurde zum bedingt zurechnungsfähigen, geldgierigen Querulanten abgestempelt. So konnte die Untersuchungshaft aufgehoben und Kupferblum um sein Verfahren gebracht werden. Die Causa war erfolgreich unter den Teppich gekehrt.

Steile Justizkarrieren

Dieser Fall brachte mich damals dazu, mich mit der österreichischen Nachkriegsjustiz näher zu beschäftigen. Ich entdeckte, dass es abgesehen von den vielen einfachen NSDAP-Mitgliedern eine ganze Reihe von Justizfunktionären gab, die sogar bei den Sondergerichten der Nazi-Justiz an Todesurteilen gegen österreichische Widerstandskämpfer mitgewirkt hatten. Alle waren inzwischen die Karriereleiter hochgeklettert, drei saßen zum Beispiel im Obersten Gerichtshof, einer war Generalanwalt der Generalprokuratur, einer war Leiter der Personalabteilung geworden. Es war derselbe, der gleich nach seiner Wiedereinstellung nach dem Krieg selbst in der Kommission saß, in der er seinen ehemaligen Kollegen Persilscheine ausstellen konnte.

STANDARD-Herausgeber Oscar Bronner rief den Justizskandal um Gerszon Kupferblum bei der Eröffnung der Ausstellung "Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht" im Wiener Justizpalast in Erinnerung.
Foto: Regie Hendrich

Die österreichische Widerstandsbewegung hatte manche dieser Fälle schon vorher kritisiert, aber das Justizministerium wies die Vorwürfe zurück; die Mitwirkung an Todesurteilen wurde schlicht abgestritten. Der damalige Justizminister Broda verteidigte seine Nazis im Haus auch persönlich, er betonte deren Loyalität zur Rechtsstaatlichkeit und behauptete außerdem, dass es keine rechtliche Möglichkeit gebe, diese Herren wieder loszuwerden.

Der Sozialdemokrat Christian Broda war ein ehemaliger kommunistischer Widerstandskämpfer, der sein Überleben dem standhaften Schweigen eines später hingerichteten Mitverschwörers verdankte. Seine früheren Todfeinde konnten nach dem Krieg in die Justiz zurückkehren, indem sie Unterschlupf bei den Regierungsparteien fanden, daher auch bei der SPÖ.

Als Justizminister arbeitete Broda an der Strafrechtsreform, für die er heute noch bekannt ist. Dafür musste er sich die Mitarbeit der Seilschaften seines Hauses sichern, ohne die kein Minister, keine Ministerin viel erreichen kann.

Strategiewechsel im Ministerium

Ich veröffentlichte eine Dokumentation in der Zeitschrift "FORVM" mit einigen der haarsträubendsten Fälle unter dem Titel "Die Richter sind unter uns". Darin stellte ich auch die Schutzbehauptungen des Justizministeriums und Brodas richtig.

Daraufhin wurde die Argumentation geändert: Während man anfangs behauptete, die erwähnten Herren hätten sich in der Nazizeit nichts zuschulden kommen lassen, hieß es jetzt, dass alle vorgebrachten Untaten bei der Wiedereinstellung ohnehin bekannt gewesen seien.

Es gab auch sonst viele Reaktionen auf die Dokumente: Bei der Eröffnung des österreichischen Richtertags zum Beispiel kritisierte dessen Vorsitzender, ein Hofrat beim Obersten Gerichtshof, die "unsachlichen und ungerechtfertigten Angriffe" und kündigte Schritte der Standesorganisationen an – eine leere Drohung.

Auch die Richter wurden kritisiert, vor allem aus dem Ausland. Der "Spiegel" brachte einen längeren Artikel zu dem Thema, in dem ein Richter zitiert wurde, dessen Unterschrift auf besonders vielen Hinrichtungsprotokollen stand: "Die anderen konnten eben kein Blut sehen".

"Schlimmer als in der Bundesrepublik"

Der Historiker Hans Mommsen schrieb uns in einem Leserbrief: "Ich kann nicht umhin, sehr tiefe Sorgen bezüglich der Entwicklung Österreichs zu empfinden, die Justizaffäre ist ein furchtbarer Teil davon. Bekannte, die die Verhältnisse kennen, glauben, dass hinsichtlich der Überwindung der NS-Vergangenheit manches schlimmer sei als in der Bundesrepublik, die ja auch wahrlich kein politisches Leuchten hervorbringt."

Mommsen hatte recht: Als wenige Jahre vorher dieselbe Problematik in Deutschland aufgekommen war, beschloss der Deutsche Bundestag ohne Gegenstimmen, dass Richter oder Staatsanwälte, die während des Kriegs im Sinne der Nazis gewirkt hatten, auf eigenen Antrag in den Ruhestand versetzt werden können.

In einer Entschließung betonte der Bundestag, dass die rechtsstaatliche Justiz aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht mit den Verfehlungen der nationalsozialistischen Zeit in Verbindung gebracht werden darf. Fast alle dieser Richter und Staatsanwälte kamen der Aufforderung nach.

Österreichische Widersprüche

In meinem nächsten Artikel schlug ich vor, dass das österreichische Parlament ein identisches Gesetz beschließen möge. Kein Politiker reagierte darauf, mit einer Ausnahme, Christian Broda wies in einem "FORVM"-Artikel nochmals alle Vorwürfe zurück und beendete die Diskussion: "Ich kann dem sehr umstrittenen Weg, den man in dieser Beziehung in der Bundesrepublik Deutschland gegangen ist, für Österreich nicht das Wort reden."

Ist es nicht bizarr? Damals galt noch als Staatsdoktrin uneingeschränkt die Opferthese, wonach Deutschland das unschuldige Österreich überfallen hätte. Aber der Aggressor Deutschland wusste sich seiner Blutrichter zu entledigen, das Opfer Österreich bestand darauf, diese Leute weiter Recht sprechen zu lassen, die nach der Staatsdoktrin als Kollaborateure anzusehen gewesen wären. Im offiziellen Österreich störte sich niemand an Widersprüchen dieser Art.

Die Affäre Kupferblum war ein Beispiel dafür, was diese Leute weiterhin anrichteten. Gerszon Kupferblum starb 1970 erschöpft, erst 60-jährig, ohne seine angestrebte Rehabilitierung erreicht zu haben. Der Politikwissenschafter Anton Pelinka schrieb im Nachruf, Kupferblum sei "zum Symbol der Auseinandersetzung einer nationalsozialistisch geprägten Justiz und dem Rechtsstaat geworden". Der österreichischen Justiz hingegen ist es bisher gelungen, den Fall wegzuadministrieren.

Überfällige Aufarbeitung

In den letzten Jahren haben sich viele öffentliche und private Institutionen mit der Hilfe von Historikern und Historikerinnen ihrer Schuld aus der Nazi-Periode gestellt. Wenig analysiert wird allerdings bisher die Kontinuität der nationalsozialistischen Gesinnung und des Personals, die sich in der Nachkriegszeit und weit darüber hinaus erhalten haben. Die Auswirkungen bekamen wir in vielen Bereichen der Gesellschaft zu spüren, in der Justiz war die Affäre Kupferblum ein Symptom.

Sehr geehrte Frau Ministerin Zadić, gestatten Sie mir vorzuschlagen, dass das Justizministerium gemeinsam mit Herrn Professor Rathkolb diesen Skandal aufarbeitet. Es wird Zeit, dass die institutionelle Kontinuität durchbrochen und Gerszon Kupferblum endlich – längst überfällig – rehabilitiert wird. (Oscar Bronner, 22.4.2022)