"Der Westen muss endlich aufhören, sich als moralischer Sieger zu sehen, und einen kritischen Blick auf sich selbst werfen": Lea Ypi.

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Lea Ypi ist Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics. In ihrem Buch Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte blickt sie zurück auf ihre Kindheit in Albanien. Sie erzählt vom Albanien unter Enver Hoxha und wie das Jahr 1990 ihre Identität und ihr Leben veränderte.

STANDARD: In Ihrem Buch Frei. Aufwachsen am Ende der Geschichte erzählen Sie von Ihrer Kindheit in Albanien unter Enver Hoxha und von der grausamen Erkenntnis, dass Ihre Eltern Sie all die Jahre über belogen haben. Hätten Ihre Eltern sich anders verhalten können?

Lea Ypi: Nein, diese Chance hatten sie nicht. Es wäre zu gefährlich gewesen, in dieser repressiven Umgebung und angesichts der strengen politischen Zensur einem Kind zu sagen, dass sie die offiziellen Meinungen nicht teilten. Sie hätten Auswirkungen an ihrem Arbeitsplatz zu spüren bekommen. Möglicherweise hätte es sogar weitreichendere Konsequenzen gegeben, und sie wären ins Gefängnis gekommen oder deportiert worden. Meine Eltern wollten aber vor allem mich schützen. Ich glaubte an die Werte, die uns in der Schule beigebracht wurden. Hätten meine Eltern mir als Kind gesagt, dass meine Wünsche, als Pionierin einer Jugendorganisation beizutreten und eine gute Bürgerin der Gesellschaft zu werden, sich niemals erfüllen würden, hätte das meine Identität und mein Selbstvertrauen erschüttert.

STANDARD: Zu den Werten, die Sie in der Schule lernten, gehörte der Anspruch Albaniens, ein sozialistischer Staat zu sein, der buchstabengetreu der marxistischen Lehre folgt. War Albanien solch ein Staat?

Ypi: Da gab es einen großen Widerspruch. Einerseits bediente die albanische Politik sich dieser Rhetorik des Marxismus. Sie berief sich auf die marxistischen Theorien und Konzepte. Andererseits war Albanien ein extrem isoliertes und nationalistisches Land. Es stellte sich dar als die große Nation und das einzige Land, das beidem widerstand, dem sowjetischen Sozialismus und dem angloamerikanischen Imperialismus. Tatsächlich ist der Marxismus eine internationale Theorie. Er verlangt einen Blick auf die Welt und nicht die selbstzentrierte Sicht auf ein einzelnes Land, und er setzt ein anderes Staatsverständnis voraus. Es konnte nicht gutgehen, den Marxismus in einer Gesellschaft umzusetzen, die niemals eine liberale industrielle Entwicklung erfahren hatte und deren Staat gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckte.

STANDARD: "Warum war der Sozialismus zu Ende gegangen?", fragten Sie 1990 und geben die Ausführungen Ihrer Lehrerin wieder. Haben Sie heute eine eigene Antwort auf diese Frage?

Ypi: Der Sozialismus scheiterte, weil er nicht demokratisch war. Viele denken, er sei ein verfehltes Wirtschaftssystem. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der entscheidende Grund für den Zusammenbruch der Ostblockstaaten war, dass sie keine freien Gesellschaften waren. Sie versprachen Freiheit, aber sie ermöglichten sie nicht. Das waren autoritäre Staaten, die Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und all die Freiheiten unterdrückten, die die Voraussetzungen bilden für die demokratische Organisation eines Staates.

STANDARD: Lässt sich Sozialismus denn auf demokratische Weise umsetzen?

Ypi: Ja. Der Sozialismus ist eine Verwirklichung von Demokratie. Ich glaube an die Kritik am Kapitalismus, die Teil der intellektuellen sozialistischen Tradition ist. Sie enthält eine Verpflichtung zur Freiheit und zu einem Verständnis von Freiheit, das liberale Freiheitsvorstellungen radikalisiert. So stellen Sozialismus und Liberalismus keineswegs Gegensätze dar. Es ist nicht so, dass der Liberalismus und der Kapitalismus die Freiheit hochhalten, während der Sozialismus andere Werte wie Gleichheit und Solidarität vertritt. Beide sind Theorien der Freiheit. Und der Mangel, auf den man in liberalen kapitalistischen Gesellschaften stößt, ist die Tatsache, dass die Freiheiten, die der Liberalismus bringt, nur für einige gelten und nicht Freiheiten für alle Menschen der Welt sind.

STANDARD: Der Sozialismus ist also mit dem Zusammenbruch der osteuropäischen Staaten nicht gestorben.

Ypi: Der Staatssozialismus ist tot, nicht aber der Sozialismus als transnationales Projekt. Ein sozialistisches Konzept, das die Welt im Blick hat und Vergesellschaftung nicht nur auf der politischen Ebene demokratisch umsetzt, hätte nicht diese selbstzentrierte, nach innen gewandte Sicht, mit der der Sozialismus der Vergangenheit die Demokratie betrachtete. Und über einen solchen Sozialismus, der über die Grenzen der Nationalstaaten hinweggeht und beides verwirklicht, Demokratie und wirtschaftliche Gerechtigkeit, sollten wir nachdenken.

STANDARD: Das heißt, wir haben 1990 nicht das Ende der Geschichte erreicht?

Ypi: Nein. Das war ein selbstgefälliges Narrativ, das oft vorgetragen wurde: Die Niederlage des Sozialismus bedeute den Sieg des Kapitalismus. Tatsächlich war es ein Irrtum zu denken, nur weil der Sozialismus besiegt wurde, habe der liberale Kapitalismus keine Probleme. Der Westen muss endlich aufhören, sich als moralischer Sieger zu sehen, und einen kritischen Blick auf sich selbst werfen.

STANDARD: "Wenn man einmal erlebt hat, wie ein System sich verändert, ist es nicht so schwer zu glauben, dass es wieder passieren kann", schreiben Sie im Epilog. Ist das eine Aufforderung an die Menschen der westlichen Welt, ihr Wirtschaftssystem zu überdenken?

Ypi: Genauso ist es gemeint. Es ist ein Aufruf, das westliche System kritisch zu hinterfragen. Vor allem aber verstehe ich es als Aufruf, die Rolle des Westens in einer globalen Welt zu überdenken. Der Westen sollte Politik und Geschichte nicht nur aus seiner Perspektive betrachten. Er sollte versuchen, seine Sicht zu dezentrieren und auch die Erfahrungen der Ränder einzubeziehen, um aus deren Perspektive Erfolge und Fehlschläge westlicher Institutionen zu beurteilen.

STANDARD: Letztendlich sind wir selbst für unser Schicksal verantwortlich, lautete eine der Lebensweisheiten Ihrer Großmutter. Teilen Sie dieses Credo?

Lea Ypi, "Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte". Aus dem Englischen von Eva Bonné. 28,80 Euro / 322 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2022
Foto: Suhrkamp-Verlag

Ypi: Ich teile ihre Überzeugung, dass kein System, so repressiv es auch sein mag, einem die menschliche Würde nehmen kann. Auch unter restriktiven Bedingungen behalten wir unsere Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen, und diese moralische Freiheit ermöglicht es uns, das System zu kritisieren, in dem wir leben, und uns bessere Alternativen zu schaffen.

STANDARD: Waren Ihre Großmutter und die Art, wie sie Entscheidungen in ihrem Leben getroffen und Verluste hingenommen hat, ein Vorbild für Sie?

Ypi: Inspirierend und wichtig für mich war die Erkenntnis, dass es bei jedem Verlust etwas Grundlegendes gibt, das niemals verloren geht. Man kann seinen Reichtum, sein Ansehen und seine Stellung verlieren, aber die machen den Menschen nicht aus. Die wahre Menschlichkeit steckt in der Würde, die man niemals verlieren kann.

STANDARD: Ihr Leben lang waren Sie von der Idee der Freiheit besessen. Haben Sie Freiheit gefunden, oder ist Freiheit nur eine Idee, die man niemals erlangen kann?

Ypi: Es gibt eine moralische Dimension der Freiheit, die wir niemals verlieren. Aber es ist auch wichtig zu sehen, dass diese moralische Freiheit nicht institutionalisiert ist und in den politischen Beziehungen nicht realisiert wird. Wir leben nicht in einer moralischen Welt. So sind wir zwar innerlich frei. Aber die äußere Freiheit bleibt nur einigen vorbehalten.

STANDARD: Sie beschreiben den Eindruck, dass Sie als Kind mehr von anderen Ländern wussten als Touristen von Albanien. Tatsächlich ist Albanien ein unbekanntes Land. Woran liegt das?

Ypi: Das ist charakteristisch für kleine Länder, deren Geschichte von großen Mächten bestimmt wird. Sie müssen alles wissen, was um sie vorgeht, und verhalten sich daher viel aufmerksamer gegenüber der Welt. Als 1990 Experten nach Albanien kamen, um Schocktherapie und die Tugenden des Neoliberalismus zu lehren, zeigten sie kaum Gespür für das soziale Gefüge vor Ort. Sie trugen ihre Rezepte mit einer paternalistischen Haltung vor, die aus der Tatsache resultierte, dass große Mächte sich nicht mit dem historischen und politischen Kräftespiel kleinerer Länder befassen.

STANDARD: "Ich kehrte nie zurück", heißt es am Ende Ihres Buches. Das klingt unendlich traurig. Waren Sie nach Ihrem Weggang nie wieder in Albanien?

Ypi: Ich fuhr immer nur für kurze Besuche hin. Innerlich verlassen habe ich Albanien jedoch nie. Bei der Abreise hatte ich immer das Gefühl, ich würde wiederkommen. Wirklich zurückkehren, um da zu leben, konnte ich jedoch nicht. Insofern stimmt, was ich geschrieben habe. (Ruth Renée Reif, ALBUM, 24.4.2022)