Le Corbusier sammelte Muscheln und Steine. Ludwig Mies van der Rohe hortete Werke von Paul Klee. Der englische Architekt John Soane hatte eine Leidenschaft für Bruchstücke antiker Gebäude. Charles und Ray Eames liebten altes Blechspielzeug. Und Yona Friedmans Wohnung am Boulevard Garibaldi im 15. Arrondissement, Paris, glich bis zu seinem Tod einem Bastellager für Holzketten, Wäschekluppen und PET-Flaschen-Verschlüssen.
Dem Niederländer Rem Koolhaas wiederum haben es alte Postkarten angetan, der Wiener Architekt Harald Schreiber umgibt sich mit Büsten und afrikanischen Totenmasken, der indische Architekt Bijoy Jain sammelt Holzwerkzeuge, und die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao kann nicht an Blättern, Samenkapseln und farbigen Erdpigmenten vorbeigehen, ohne sie gleich vom Boden aufzuheben und – als Inspirationsquelle für ihre eigene Arbeit – in transparenten Gläsern aufzubewahren.
Eine solche Besessenheit umgibt auch den Berliner Architekten Jürgen Mayer H. Der Herr mit dem geheimnisvollen Initial am Ende seines Namens hat nämlich in den frühen Neunzigerjahren damit aufgehört, Kuverts wegzuschmeißen. Und zwar nicht irgendeine Art von papiernen Briefumschlägen, sondern jene an der Innenseite chiffrenhaft bedruckten, mit denen in der Regel PIN-Codes, Kontoauszüge und Kreditkartenabrechnungen verschickt werden. Im Haus der Architektur (HDA) in Graz lernt man aktuell, dass diese meist blauen oder schwarzen Muster sogar einen eigenen Namen haben. Und viel kreatives Potenzial bergen.
Schon 1913 als Bleisatz
"Mich hat die Faszination dieser Datenschutzmuster seit damals nicht mehr losgelassen", sagt Mayer H. "Das liegt zum einen an den geheimnisvollen Patterns, die man in diesen Matrizen entdecken kann, zum anderen natürlich auch an der fast schon anachronistischen Schnittstelle zwischen privat und öffentlich, zwischen individueller Persönlichkeit und Bürokratie, zwischen Digitalisierung und postalisch verschickten Briefen und Formularen." Mittlerweile umfasst Mayer H.s Sammlung mehrere Hundert Kuverts aus Europa, Amerika, Südafrika und Fernost.
Die Bandbreite reicht von Zickzack und Wellenmustern über repetitiv aneinandergereihte Logos bis hin zu vielschichtigen Wirrwarrs aus Buchstaben und Zahlen, die ohne erkennbares System wild übereinandercollagiert werden. Bei seinen Recherchen fand Mayer H. heraus, dass die Berliner Druckerei Berthold die Muster in ihrem Katalog bereits 1913 als Bleisatz angeboten hat. 100 Jahre später hat das analoge Relikt noch immer nichts an Aktualität eingebüßt.
Das Spannende an der Ausstellung Envelopes. Addressed by J. Mayer H. im HDA und an der Besessenheit des Berliner Architekten, der in Fachkreisen für seinen Bubble-Formalismus vielfach kritisiert und als platt und banal bezeichnet wird, ist der inhaltliche Konnex zwischen Ursache und Wirkung.
Plötzlich ist das Werk des sympathischen, aber umstrittenen 56-Jährigen, der auffällig viele öffentliche Bauten in Georgien sowie schon etliche Luxusvillen in ganz Europa realisierte, nicht mehr nur die Summe aus Laubsägearbeit, Mengenlehre und Extrusion, sondern eine baulich manifest gewordene Evolution – von den frühen Installationen in der Berliner Galerie Magnus Müller Temporary, im New Museum in New York oder im San Francisco Museum of Modern Art bis zu den vielen Wohnhäusern, Bürobauten, Haltestellen, Flughäfen und Platzüberdachungen zwischen Nordsee und Schwarzem Meer.
"Ich habe mich früher gefragt: Warum baut er immer diese weichen Formen?", sagt die Berliner Architektin und Kuratorin Beate Engelhorn, die seit 2019 das HDA Graz leitet. "Mit diesem Schlüssel seiner Sammelleidenschaft und seiner frühen Ausstellungen wird Jürgen Mayer H.s Werk plötzlich in ein ganz neues Licht gerückt. Ich finde das transdisziplinäre Ineinandergreifen von Kunst, Design und Architektur und die transparent gemachten Formfindungsprozesse zutiefst spannend."
Subjektive Liebeserklärung
Während die Architekturprojekte selbst in der HDA-Ausstellung lediglich in Form von Grundrissen, Schnitten und Ansichten zu sehen sind, liegt der Schwerpunkt der Schau auf der exotischen Kuvertsammlung sowie auf einer Kunstserie, die im Corona-Lockdown begonnen hat und in der Mayer H. die geheimnisvoll chiffrierten Datenschutzkuverts mit im Siebdruckverfahren vergrößerten Datenschutzmustern und Folienfragmenten alter Installationen aus diversen Museen zu wilden, neonquietschbunten Collagen vermengt hat. 19 dieser durchnummerierten Data Collagen hängen im HDA an der Wand.
Jürgen Mayer H. selbst, dem natürlich auch die psychedelisch gemusterten Camouflage-Sitzbezüge in den Berliner U-Bahnen gefallen und der sich von den mit schwarz-weißen Dazzle-Mustern getarnten Testautos – den sogenannten Erlkönigen – angezogen fühlt, bezeichnet seine polarisierende Architektur als Alternative zum oft monotonen und szeneinhärent geführten Architekturdiskurs.
"Die heutige Architektur ist meist auf Wirtschaftlichkeit, Funktionalität und Nachhaltigkeitsthemen fokussiert", sagt er. "Natürlich sind auch unsere Bauten ökologisch nachhaltig konzipiert und zertifiziert, aber das allein als Rechtfertigung für Architektur reicht mir nicht aus. Unser Background ist ein anderer, unsere Arbeiten bewegen sich zwischen Kunst, Design, Queering Architecture, Digitalisierung und dem permanenten Hinterfragen von Konventionen. Und indem wir uns darum bemühen, unsere Konzepte und Visionen baubar zu machen, leisten wir einen Beitrag zu Forschung und Innovation. Das ist der Motor, der uns bewegt."
In der kleinen und sehr charmanten Ausstellung Envelopes, die weniger eine objektive Analyse als vielmehr eine subjektive Liebeserklärung an eine singuläre Position europäischen Architekturschaffens ist, lernt man als Besucher vor allem eines: Vorurteile und einzementierte Klischees zu überdenken und zu akzeptieren, dass jede Architektur immer auch nur ein formaler Akt ist. Der Rest ist Geschmackssache. (Wojciech Czaja, 24.4.2022)