Wer in Sozialmärken einkaufen oder sich Lebensmittel von der Tafel holen muss, bekommt selten frisches Obst und Gemüse.

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"Ich musste immer schon sparsam leben. Aber jetzt komme ich kaum noch zurecht", sagt Brigitte Karner*. 978 Euro hat die Wiener Pensionistin monatlich zur Verfügung, zwei Drittel davon machen allein die Wohnkosten aus. Die Teuerungswelle macht der 69-Jährigen zu schaffen. Regelmäßig kauft sie in Sozialmärkten ein, doch dort gebe es kaum frisches Obst und Gemüse, erzählt sie im STANDARD-Gespräch.

Wie auch das Wifo kürzlich meldete, trifft der aktuelle Preisanstieg ärmere Haushalte deutlich stärker. Sie gaben schon bisher ihr gesamtes Einkommen für Konsumgüter aus – weitere Einschränkungen sind nun die Folge, eine Verschuldung droht.

Insgesamt 13,9 Prozent der österreichischen Bevölkerung waren im Jahr 2020 armutsgefährdet. Das Einkommen der rund 1,22 Millionen Menschen lag also unter der Armutsgefährdungsschwelle von aktuell 1.328 Euro monatlich.

Altersarmut ist weiblich

Geschichten wie jene von Brigitte Karner sind keine Einzelschicksale, Altersarmut von Frauen hat System. Insbesondere alleinlebende Pensionistinnen zählen in Österreich zu jenen Gruppen, die überdurchschnittlich armutsgefährdet sind.

"Der wesentlichste Faktor für die Altersarmut von Frauen ist ihr Erwerbsverlauf", sagt Katharina Mader, Ökonomin in der Wiener Arbeiterkammer. Noch immer seien Frauen hauptzuständig für die unbezahlte Arbeit, betreuen Kinder und pflegebedürftige Angehörige – und schrauben dafür die Erwerbsarbeit zurück. Aber auch die niedrige Bezahlung in typischen Frauenbranchen drücke auf die spätere Pensionshöhe. Die geschlechtsspezifische Lücke klafft hier gewaltig: Frauen, die 2020 in Pension gingen, erhielten durchschnittlich nur 56 Prozent der Männer-Pensionen – eine Verschlechterung gegenüber 2019.

Die Folgen der Pandemie auf die Frauenpensionen sind indes noch nicht abzuschätzen. "Frauen haben wegen der Kinderbetreuung ihre Arbeitszeit nochmals reduziert. Und wir wissen nicht, ob das nur temporär war", sagt Mader. Langfristig könnten massive Pensionsverluste drohen.

Sozialer Druck

"Armut ist ein sehr schambehaftetes Thema, so erleben wir das in unserer täglichen Praxis", sagt Sandra Jakomini von der Frauenberatungsstelle Leibnitz, die die steirische Bezirkshauptstadt, aber auch viele ländliche Gemeinden abdeckt. Oft würden Frauen nach Unterstützung bei der Wohnungssuche fragen, erst im dritten oder vierten Beratungsgespräch komme die finanzielle Not zur Sprache. "Auf dem Land kennt jede jede. Da ist es nochmal schwieriger zu sagen: Ich kann mir das Leben nicht mehr leisten", so Jakomini.

Abseits existenzieller Fragen sei es besonders für ältere Frauen auf dem Land schwierig, Dinge für sich selbst einzufordern, beobachtet die Genderexpertin. Etwa zu sagen: Ich habe ein Recht darauf, etwas Schönes zu machen und dafür Geld auszugeben. "Der soziale Druck ist stärker. Also der Anspruch zu funktionieren, Pflegearbeit zu leisten und immer für die Familie da zu sein", erzählt Jakomini im STANDARD-Gespräch. Auch fehlende Infrastruktur in ländlichen Gemeinden erschwere die soziale Teilhabe. Kultur bedeute, viele Kilometer fahren zu müssen, ist ein Familienauto vorhanden, werde es meist von den Männern beansprucht. Frauen in Altersarmut würden so unsichtbar.

"Der Kulturpass ist ein Segen. Wenn der wegfallen würde, wäre ich wirklich sehr traurig", sagt indes Brigitte Karner. Den Pass können Menschen in prekären finanziellen Verhältnissen beantragen, in teilnehmenden Häusern sichert er den kostenlosen Eintritt. Karner ist einer armutsbetroffenen Arbeiter*innenfamilie aufgewachsen, sie maturierte, ein begonnenes Studium schloss sie nicht ab. Nach einer Trennung zog sie mehrere Kinder allein auf. "Und das war der Punkt, wo die Armut wieder zugeschlagen hat", erzählt die Wienerin, die auch immer wieder mit Krankheiten zu kämpfen hatte. Es folgten Teilzeitarbeit, prekäre Jobs, schließlich übernahm sie die Pflege ihrer Eltern. Karner entschied sich bewusst dafür, ein Pflegeheim stand für sie nie zur Debatte. "Frauen machen viel mehr Carearbeit, aber die hat eine menschliche Dimension. Und dafür gibt es weder Geld noch Anerkennung", sagt sie. Eine unterschiedliche Bewertung und damit auch schlechtere Bezahlung von Tätigkeiten kritisiert Karner auch am Erwerbsarbeitsmarkt. "Warum sollte die Arbeit von Frauen im Handel weniger wert sein? Ich kenne auch keine Gesellschaft, die kein Reinigungspersonal braucht", sagt die Wiener Pensionistin.

Loses Pflaster

Dass der Gender-Pension-Gap in Wien geringer ausfällt als in den anderen Bundesländern, sei vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen, erklärt Ökonomin Katharina Mader. Ein engmaschiges Netz an Kinderbetreuungseinrichtungen ermögliche es eher, in Vollzeit zu arbeiten. Aber auch der Sitz des Verwaltungsapparats in der Hauptstadt spielt eine wesentliche Rolle. "Wir wissen, dass bei Beamt*innen und Verwaltungsbediensteten größere Lohngleichheit herrscht als in der Privatwirtschaft", so Mader. Der niedrigere Gender-Pay-Gap lässt auch die Pensionslücke kleiner werden.

Der Kampf gegen die Altersarmut ist indes auch im türkis-grünen Regierungsprogramm verankert. Die Bundesregierung setzt auf ein automatisches Pensionssplitting, das noch auf seine Umsetzung wartet. Schon jetzt ist es Eltern möglich, ihre Pensionsbeiträge freiwillig neu zu verteilen, angenommen wird das aber kaum. "Die Volkspartei fordert seit Monaten die Umsetzung des automatischen Pensionssplittings, wie es im Regierungsprogramm vereinbart ist", twitterte jüngst Generalsekretärin Laura Sachslehner – so solle mehr Gleichberechtigung sichergestellt werden.

Ökonomin Mader hingegen betrachtet das automatische Pensionssplitting kritisch. "Es ist wie ein Pflaster. Auch das hat seinen Nutzen, aber es ist eben nur ein Pflaster am Ende einer Erwerbslaufbahn mit benachteiligenden Strukturen. Wir müssen ganz vorn beginnen, bevor der Gender-Pay-Gap entsteht", sagt Mader.

Weg in die Vereinsamung

Wenn Brigitte Karner danach gefragt wird, was Altersarmut von Armut unterscheide, denkt sie an Hoffnung. "Wenn du noch jünger bist, besteht die Hoffnung, vielleicht doch noch einen gut bezahlten Job zu finden, gesünder zu werden, da irgendwie rauszukommen", sagt sie. Karner hat ihr Leben lang schwer gearbeitet, ihre körperliche Kraft lässt nach, erzählt sie. Ganz alltägliche Dinge werden schwieriger, eigentlich bräuchte sie dringend ein barrierefreies Bad. Ihre gute Beziehung zu den eigenen Kindern schätzt sie als großes Glück, für viele andere bedeute Altersarmut eine zunehmende Vereinsamung. "Du kannst dir vielleicht nicht einmal einen Ausflug leisten. Wenn du die Enkel besuchst, kannst du keine Geschenke mitbringen – das ist so traurig, dass du drauf verzichtest." Karitative Einrichtungen, die Armutsbetroffene unterstützen, würden in Österreich wichtige Arbeit leisten, sagt Karner. Doch ihre Aufgabe sei das nicht. "Armut zu bekämpfen, das ist Aufgabe der Politik, nicht der Kirche."

Auch Sandra Jakomini, die in der südsteirischen Beratungsstelle regelmäßig darüber aufklärt, welche Auswirkungen Teilzeitarbeit auf die Pension hat, pocht auf die Systemfrage. Denn Frauen würden nicht nur in der Pandemie die Schwächen eines Gesellschaftsmodells abfedern: in der Kindererziehung, der Beziehungsarbeit, in der Pflege und im Haushalt. "Aber spätestens im Alter sind die Frauen diejenigen, die für die Schwächen des Systems dann bezahlen. Und da muss das System endlich Verantwortung übernehmen." (Brigitte Theißl, 25.4.2022)