Fabelhafte Misch- und Fantasiewesen, wohin das Auge blickt: Die Ausstellung "The Milk of Dreams" bildet einen aktuellen Trend der Gegenwartskunst ab.

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Dieser Kraftakt braucht starke Wächterinnen: An beiden Standorten der umfassenden Ausstellung The Milk of Dreams der Venedig-Biennale sind zwei respekteinflößende Skulpturen postiert. Allein durch die Dimensionen der Elefantin von der deutschen Künstlerin Katharina Fritsch im Zentralpavillon in den Giardini sowie der Schwarze Göttinnen-Büste der US-Amerikanerin Simone Leigh im Arsenale wird ein monumentaler Anspruch erhoben. Zugleich verkünden sie die Botschaft der von Cecilia Alemani kuratierten Ausstellung: Künstlerinnen und queere Menschen geben den Ton an.

Die künstlerische Direktorin setzt bei der aufgrund der Pandemie um ein Jahr verschobenen 59. Ausgabe der Biennale einen Schwerpunkt auf weibliche sowie nicht genderkonforme Positionen. Das ist kein halbherziger Kompromiss, sondern ein starkes Statement: Fast 90 Prozent der 200 vertretenen Positionen aus 58 Ländern sind Frauen oder nonbinär, viele davon People of Colour sowie aus dem Globalen Süden. Das lässt viele Kritiker erst einmal schlucken – kann die wichtigste internationale Kunstausstellung nur funktionieren, wenn sie sich Gender und Diversity auf die Fahnen schreibt? Die Antwort lautet: Ja.

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Denn Alemani hinterfragt mit ihrer Auswahl die jahrhundertelange weiße, männliche Vormachtstellung und strebt dabei einen Ausgleich historischer Ungerechtigkeiten an. Seit der ersten Ausgabe der Venedig-Biennale 1895 nahmen stets männliche Künstler den Großteil der Ausstellung ein. In den letzten Jahren habe sich das bereits geändert, von einer fairen Präsenz konnte aber noch keine Rede sein. 2022 ist vieles anders.

Eine Quote habe die Kuratorin, die 2017 den italienischen Pavillon konzipierte, dennoch nicht verfolgt. Die ausgewählten Positionen summierten sich im Prozess, bei der Pressekonferenz erklärte Alemani, dass sie einfach mehr gute Künstlerinnen kenne. Durchläuft man diese Ausstellung aber schließlich, überzeugt die unglaubliche Fulminanz der präsentierten Kunst – das Geschlecht dahinter scheint endlich egal zu werden.

Hallo Cyborg!

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Auch die inhaltliche Ausrichtung orientiert sich an sehr zeitgemäßen Themen: Das vom Menschen beherrschte Zeitalter, hybride Körper, die Verschmelzung von Mensch und Maschine sowie die Beziehung zur Natur gelten als zentrale Elemente. Donna Haraway und ihre Theorien vom Cyborg lassen grüßen. Unzählige Arbeiten entlassen fantastische Mischwesen, Tier-Mensch-Symbiosen sowie zerteilte Körper in die Kunstmanege.

So verwachsen in den fast transparenten Plastiken von Andra Ursuţas (Rumänien) menschliche Körperteile mit Meeresbewohnern, Tentakeln und Alienköpfen. Auch Candice Lin (USA) vermengt in aufwendigen Keramikskulpturen Tierfratzen, Kakteen sowie Duftölfläschchen und macht sie zu fast andächtigen Totems. Muschelmotive, Pastellfarben und Bezüge zu rituellen Gesten kehren immer wieder. Den vielen unbekannten zeitgenössischen Positionen (Entdeckungen!) werden historische Größen gegenübergestellt – und so Parallelen über Jahrzehnte hinweg sichtbar gemacht.

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Zarte Zeichnungen aus den 1970er-Jahren der österreichischen feministischen Avantgardekünstlerin Birgit Jürgenssen lassen aus einer männlichen Figur Krabbenbeinchen und Fühler wachsen. Und obwohl nachträglich integriert, passt ein verspieltes Märchenwesen der 1909 geborenen ukrainischen Künstlerin Maria Prymachenko gut hierher – wenigstens ein Bezug zum aktuellen Krieg, der auch zahlreiche Werke der Vertreterin der Naiven Malerei zerstörte.

In die Vergangenheit blicken insgesamt fünf "Zeitkapseln", in denen Alemani lange unterrepräsentierte Kunstschaffende mit historischen Werken ab dem 19. Jahrhundert zeigt. Diese kleinen, farblich hervorgehobenen Sektionen fügen sich unerwartet ideal unter die Zeitgenossinnen und treten fast als Minimuseumsausstellungen in Dialog.

Fetische, Mütter und Tiere

Die Hauptkapsel liegt wie eine goldene Brutstätte im Bauch des Zentralpavillons: Surreale Malerinnen wie Dorothea Tanning, Remedios Varo und Leonora Carrington finden sich hier zum Hexentanz mit Fabeltieren und Mischwesen ein. Den Titel der Schau, The Milk of Dreams, entnahm Alemani dem gleichnamigen Kinderbuch Carringtons, in dem eine magische Welt imaginiert wird, in der sich alles wandeln und transformieren kann.

In loser Tradition dieser malerischen Allmütter können Werke jüngerer Künstlerinnen wie die großartigen Körper von Christina Quarles (USA), die reichlich bestickten Tapisserien von Myrlande Constant (Haiti) oder die abstrakten Welten von Merikokeb Berhanu (Äthiopien) gesehen werden. Auffallend sind die vielen großformatigen Skulpturen, Installationen und Gemälde sowie der Fokus auf Stoff oder Keramik – und die dabei fast frappierende Absenz digitaler Werke.

Analog statt digital

Von künstlicher Intelligenz, Virtual Reality oder NFTs ist hier selten die Rede, Haptik und Analoges regieren. Das mag nach zwei Jahren Pandemie einer gewissen Displaymüdigkeit entgegenkommen, reflektiert aber kaum aktuelle Trends der Gegenwartskunst.

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Andererseits erhalten die gezeigten Filme so mehr Raum und ziehen in die teils sehr überladenen Ausstellungshallen ruhige Rückzugsorte ein. Dort laufen starke bis verstörende Videoarbeiten: einsame Hunde bei der griechischen Künstlerin Janis Rafa, sexuelles Begehren mit Pflanzen bei Zheng Bo (China) oder Märchenfetisch mit Rattenschwanz als Sitzgelegenheit bei Marianna Simnett aus Großbritannien.

Imposante, menschenleere Installationen aus gepresster Zimterde von Delcy Morelos (Kolumbien) oder angelegte Parklandschaften samt Fluss und Schmetterlingen von Precious Okoyomon (Großbritannien) bilden den ausgleichenden Gegenpol zu den überbevölkerten, surrealen Körperwelten: Überall wuselt, atmet und verwandelt sich etwas. Derart lebendig und quirlig hat sich die Biennale selten gezeigt. (Katharina Rustler aus Venedig, 22.4.2022)