Ukrainische Rekruten üben den Einsatz von Javelin-Raketen, mit denen unzählige russische Panzer zerstört wurden.

Foto: EPA / Roman Pilipey

Im Mittelalter waren es die Armbrust, die die Rüstungen angreifender Ritter durchbohren konnte, sowie der englische Langbogen, der viel größere französische Reiterheere im Hundertjährigen Krieg stoppte.

In der Neuzeit konnten Festungsanlagen Belagerungen widerstehen, im Ersten Weltkrieg sorgten Stacheldraht, Maschinengewehre und Schützengräben für jahrelange Stellungskämpfe. Immer wieder in der Geschichte brachten neue militärische Technologien der Verteidigung so große Vorteile, dass sie auch zahlenmäßig überlegene Feinde besiegen konnten.

Aber es gab auch immer wieder gegenläufige Trends: Ab dem 15. Jahrhundert stärkten Kanonen die Seite der Angreifer, im 19. Jahrhundert waren es Zündnadelgewehre, im Zweiten Weltkrieg waren es Panzer und Flugzeuge. So konnte das osmanische Heer bis nach Wien vordringen und Adolf Hitlers Wehrmacht in ihren Blitzkriegen fast ganz Europa erobern.

Überlegene Telekommunikation

Für manche Beobachter ist der Krieg in der Ukraine ein weiteres Beispiel, wie Waffentechnologie das Gleichgewicht zwischen Angreifern und Verteidigern verändert – und diesmal wieder zugunsten der Angegriffenen. Russische Desorganisation und Inkompetenz sowie die hohe Moral der ukrainischen Soldaten mögen viel dazu beigetragen haben, dass eine schwächere Armee in den ersten Wochen des Krieges einer überlegenen Streitmacht so erfolgreich die Stirn bieten konnte.

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Aber ebenso entscheidend waren die zahllosen leichten und hochpräzisen Flug- und Panzerabwehrwaffen, mit denen die bewegliche ukrainische Infanterie russische Panzer lähmen und Flugzeuge abschießen konnte. Dazu kamen Drohnen, mit denen die Positionen der russischen Einheiten ausgeforscht und sofort gemeldet werden konnten, sowie eine überlegene Telekommunikation.

Kolosse in Gefahr

Die Versenkung des Raketenkreuzers Moskwa durch zwei ukrainische Neptun-Raketen wirkt überhaupt wie ein Triumph der modernen Verteidigung über schwimmende Kolosse, die jeder Seemacht Schrecken einflößen sollte – auch den USA mit ihrer großen Flugzeugträgerflotte, mit der sie als einziger Staat globale Militärmacht ausüben können.

Ebenso gewinnt man bei all den Bildern zerstörter russischer Panzer den Eindruck, als seien das die Dinosaurier der Kriegsführung, die vor dem Aussterben stehen. Smarte Präzisionswaffen wiederum sind die Steinschleuder, mit denen ein moderner David mit smarter Taktik seinen Goliath erschlagen kann.

Der US-Militärjournalist Sydney J. Freedberg Jr. zählt zwei weitere Faktoren auf, die den ukrainischen Verteidigern nutzen: dichte Urbanisierung, weil Städte schwerer einzunehmen sind, und die Mobilisierung der Bevölkerung durch Massenmedien, was heute durch das Internet und soziale Medien noch leichter geworden ist.

Das hätten auch die USA im Irak nach dem Sturz von Saddam Hussein zu spüren bekommen. Doch würden Demokratien mehrheitlich defensive strategische Ziele verfolgen und seien daher hier im Vorteil. "Es ist eine schlechte Nachricht für China und andere Staaten, die mit Gewalt Gebiete erobern wollen", schrieb er in Breaking Defense. "Chinesische Strategen sollten sich die Schlussfolgerungen für eine erzwungene Wiedervereinigung mit Taiwan gut überlegen."

Frage der Taktik

Für Barry Posen, Professor für Internationale Beziehungen am Massachusetts Institute for Technology (MIT), haben Verteidiger grundsätzlich taktische und strategische Vorteile, die Angreifer allerdings mit ausreichend starker Feuerkraft überwinden können.

Dafür müssten alle Kräfte gebündelt werden, was die russische Armee in der Schlacht um Kiew allerdings verabsäumt hat. "Rund um Kiew haben die Russen fast alles falsch und die Ukrainer fast alles richtig gemacht, und dazu kommt eine große Zahl relativ moderner westlicher Panzerabwehrwaffen", sagt er. "Das erklärt den bisherigen Kriegsverlauf."

Für Markus Reisner, Militärexperte an der Theresianischen Akademie in Wiener Neustadt, ist das Erfolgsrezept der Ukrainer in der ersten Phase dieses Krieges noch komplexer. Er betont vor allem das Zusammenspiel von hervorragender Aufklärung, insbesondere durch Drohnen und Cybertechnologie, mit Präzisionswaffen, wodurch die ursprünglichen russischen Kriegspläne vereitelt wurden. "Drohnen spielen in diesem Konflikt eine ganz wichtige Rolle", sagt er.

Aber auch die Russen verfügten über moderne Drohnen, betont Reisner. Der Schlüssel zum Erfolg sei daher die Taktik. "Entscheidend sind weniger die Waffensysteme an sich, sondern wie man sie zum Einsatz bringt."

Die ukrainische Armee habe, sagt Reisner, aus der Erfahrung von 2014 gelernt und die Angreifer nicht direkt konfrontiert, sondern entschieden, Vorstöße zuzulassen und dann die Versorgungslinien zu attackieren. Und jeder Erfolg sei mit Drohnen gefilmt und verbreitet worden, was wiederum die Moral der Verteidiger gehoben habe. "Den Informationskrieg haben die Ukrainer eindeutig gewonnen," sagt Reisner.

Gebündelte russische Kräfte

Ob all diese die Faktoren in der neuen Phase des Krieges, der russischen Großoffensive im Donbass, noch genauso zählen, ist allerdings unsicher. "Die Russen haben aus ihren Fehlern bei Kiew gelernt" und würden ihre Kräfte jetzt viel besser bündeln und damit die Schlagkraft verstärken, sagt Posen.

Auch das Terrain in der Ostukraine sei für Panzer vorteilhafter als im bewaldeten Norden. Die numerische Überlegenheit der russischen Armee übersteige das traditionell genannte Verhältnis von drei zu eins, das erfolgreiche Angreifer benötigen würden, noch.

Auch Reisner sieht im Donbass keinen klaren Vorteil für die eine oder andere Seite. Für die Ukraine sprächen die weiterhin hohe Motivation, die gute Vorbereitung auf die russische Offensive und die Lieferungen von schweren Waffen aus Nato-Staaten, die allerdings für die nun laufende Angriffswelle vielfach zu spät kämen.

Die Russen würden von der Zusammenführung ihrer Kräfte, der anhaltenden Luftüberlegenheit sowie der zunehmenden Abnützung auf der ukrainischen Seite profitieren. "Ich schätze die Chancen bei 50:50 ein", sagt er.

Logistik ist entscheidend

Die russische Taktik im Donbass ist klar: Mit Zangenbewegungen aus dem Norden und dem Süden sollen die starken ukrainischen Streitkräfte an der Grenze zu den Separatistengebieten eingekesselt werden. Diese Vorstöße aber geben den Ukrainern die Möglichkeit, russische Linien zu durchbrechen und ebenfalls Einkesselungen zu erzielen.

Welche Seite sich in diesem brutalen Ringen durchsetzt, könnte davon abhängen, wem die Versorgung der Truppen besser gelingt, sagt Reisner. Und da habe Russland mit seinem intakten Hinterland die etwas besseren Karten. "Die Logistik ist kriegsentscheidend", sagt er.

Aber selbst wenn die ukrainische Armee auch im Donbass den russischen Angriff abwehren kann, steht sie vor der größten Herausforderung: die bereits besetzten Gebiete zurückzuerobern. Dafür würde sie noch viel mehr schwere Waffen, vor allem Panzer, benötigen, deren militärische Bedeutung trotz der Kraft der modernen Antipanzerwaffen geblieben ist, sagt Reisner: "Panzer geben die einzige Möglichkeit, geschützt und mit Feuerkraft Gebiet in Besitz zu nehmen."

Der Westen kann sich in den kommenden Monaten noch auf zahlreiche leidenschaftliche Appelle des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj einstellen. (Eric Frey, 23.4.2022)