Der Buhruf gehört zum guten Ton verglichen mit dem, was früher üblich war: In der Antike wurden Akteure verprügelt, bis ins 19. Jahrhundert wurde bei Missfallen der Vorstellung mit Obst geworfen.

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Nie zuvor in der Geschichte ging es im Theater oder der Oper so diszipliniert und gesittet zu wie heute. Abgesehen von einer Fuhre Mist vor dem Burgtheater anlässlich der Heldenplatz-Uraufführung 1988 gelten heute Buhrufe als höchstes Missfallenszeichen vonseiten des Publikums. Mit Blick auf historische Gepflogenheiten können Direktoren und Direktorinnen der Gegenwart also nur von Glück reden. Dennoch missfielen unlängst Staatsoperndirektor Bogdan Roščić Buhrufe bei einer Generalprobe von Calixto Bieitos Tristan –man möge doch so nett sein und sich dies für die Premiere aufheben, ließ er das Publikum wissen.

Wissen sollte man allerdings auch: Noch um 1800 wurde in der Oper ungeniert geplaudert, herumspaziert, geraucht, es wurden Nüsse geknackt und mit Schalen und Früchten geworfen, wie ein Kritiker in der Allgemeinen Theaterzeitung damals in Berlin monierte.

Vom Jahrmarktcharme weit entfernt sind Theater und Oper heute Gattungen der Hochkultur, und mit ihrer Ausbildung über die Jahrhunderte hat sich auch das Publikum zunehmend diszipliniert. Das höflich nach Beendigung der Vorstellung ertönende Buh ist als letzte distinguierte Beschwerdeform geblieben. Und selbst der Buh-Enthusiasmus hat abgebaut, wie Burgschauspieler Philipp Hauß beobachtet.

Lieber Buh als Langeweile

Heute drücke sich Missfallen vor allem durch Gelangweiltsein aus. Und da sind schleppender Applaus oder frühes Aufstehen und Gehen für ihn schmerzlicher als Buhs, die immerhin eine "emotionale Entladung" bedeuten, wie er sagt, und die zeigen, dass die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum funktioniert.

Buhrufe richten sich vorwiegend gegen ästhetische Tabubrüche, und die sind im Sprechtheater akzeptierter als im Musiktheater, wo jede der Tradition entgegenstehende, auftrumpfende Regiehandschrift ihren akustischen Denkzettel verpasst kriegt. In der Oper erwischt es aber auch einzelne Sangesleistungen. Das ist besonders hart. Startenor Roberto Alagna floh 2006 bei einer Aufführung der Aida von der Bühne der Mailänder Scala, weil ihm die Buhrufe zu sehr zugesetzt hatten. "Ich wollte auf der Stelle sterben", sagte er damals und vermutete eine gezielte Störaktion.

Antike Klatschmänner

Gekaufte Reaktionen waren seit jeher ein heißes Thema, weil auf diese Weise hinauf- oder hinuntergejubelt werden konnte und damit künstlerischer Wert manipuliert wurde. Das funktionierte bereits in der Antike. Es soll vorgekommen sein, dass beim Tragödienwettstreit in Athen Claqueure eingeschleust wurden; auch in Rom soll Kaiser Nero seinen eigenen dichterischen Werken durch sage und schreibe 5000 angekarrte Klatschmänner vom Land Auftrieb verschafft haben. Nicht zuletzt hat das antike Publikum leidenschaftlich Unmut bekundet, der entweder an die Herrscher adressiert war oder sich gegen gewisse Erzählweisen stemmte.

Heinz Kindermanns zehnbändige Theatergeschichte Europas referiert einige dieser Vorfälle in den damals stadiongroßen Theatern. Euripides musste angeblich eine Vorstellung deshalb stoppen, weil das Publikum keine Geduld mehr aufbrachte, bis die auf der Bühne sich abzeichnende Blasphemie bestraft wurde. Auch die damals von missgestimmten Zuschauern gelegentlich einverlangte "körperliche Züchtigung" von Schauspielern passt gut zur Expressivität des damaligen Publikums.

Gesetz und Bühnenordnung

Trampeln, Schreien, Auszischen und Pfeifen, ja auch Aushusten, waren die üblichen Formen der Unmutsäußerung, sie haben sich bis ins 19. Jahrhundert erhalten, als allmählich überall Theatergesetze und Bühnenordnungen in Kraft traten. Die Disziplinierung des öffentlichen Raumes und des menschlichen Verhaltens begann aber schon in der Renaissance. Natürliche Regungen und menschliche Triebe wurden ab da zunehmend unterdrückt, nachzulesen bei Soziologen wie Norbert Elias. Am Ende dieses zivilisatorischen Prozesses stand schließlich die industrialisierte Gesellschaft.

Affekte tabuisiert

Der Weg bis dahin lässt sich auch am Theaterverhalten ablesen: Affekte wurden tabuisiert, Stillsitzen verordnet, das Parterre bekam eine Bestuhlung, die Plebs wurde in die oberen Ränge verfrachtet. Als besonders rüpelhaft waren die sogenannten Groundlings im elisabethanischen Theater verschrien, Vertreter der sozialen Unterschicht auf den Stehplätzen im Theaterhof. Klar, das Theater hatte eine Ventilfunktion und die Deklassierten am meisten Grund zur Beschwerde.

Mit der Professionalisierung des Theaterbetriebs sollte das Publikum erzogen werden. In einer behördlichen Vorschrift in Florenz stand 1583: Es ist allen Personen aller Stände verboten, zu "fisteln, lärmen, Zitronen, Orangen, Birnen oder irgendetwas anderes zu werfen".

Zustimmung des Publikums

Die Theaterbühne wurde von führenden Schichten stets für ideologische und später auch für wirtschaftliche Interessen genützt, und da kommt der Buh-Orkan wieder ins Spiel. Denn mit ihm wurden Stars gemacht oder desavouiert. Besonders ab einer Zeit, als sich Bühnen zu wirtschaftlichen Unternehmen ausbildeten. Die Zustimmung des Publikums war Geld wert. Ausgedrückt hat sich das in vielen regelrechten Theaterschlachten. Einen Höhepunkt erreichte das in der Phase des sogenannten Buffonistenstreits 1752–54 in Paris.

Buhrufe können aber einer Theaterproduktion bis heute zusetzen. Das Landestheater Linz beispielsweise ringt mit seinem Publikum seit Herbst um eine bemerkenswerte Schwejk-Inszenierung. Schauspieler Christian Higer meint, dass das Publikum vor allem dann buht, wenn etwas Persönliches getroffen wird, etwa wenn durch einen betrunkenen und ausfälligen Pfarrer, wie im Schwejk, religiöses Empfinden verletzt wird.

Manchmal schlägt so eine Buh-Produktion aber auch in Kult um. Man denke nur an Regisseure, die zu ihrer Hochzeit dem Buh noch einmal neues Leben eingehaucht haben, wie Frank Castorf oder Leander Haußmann. Letzterer hat seine Theaterbiografie übrigens gleich Buh betitelt. (Margarete Affenzeller, 23.4.2022)