Man hat es nicht für möglich gehalten – zumindest nicht als friedensverwöhnte, privilegierte "Westlerin". Dass es nur knapp zwei Monate, nicht einmal 60 Tage, braucht, um ein Land zu verwüsten, eine prosperierende Zivilisation zu zerstören und Millionen Menschen zu traumatisieren. Wladimir Putins Truppen haben Menschen getötet, Gebäude und Infrastruktur in der Ukraine zerbombt – und vermeintlich felsenfeste Gewissheiten im Rest Europas ins Wanken gebracht. Etwa die, dass nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert "nie wieder" etwas derart Schreckliches auf europäischem Boden passieren werde. Oder jene, dass enge gegenseitige Handelsbeziehungen der Garant dafür seien.

Die Wirklichkeit ist eine andere. Europa steht vor dem Abgrund seiner Russland-Politik. Blickt auf die Ruinen von Wohnhäusern und in Massengräber, sieht, wie Zivilistinnen und Zivilisten auf Fahrrädern zusammengeschossen, Kinder auf Bahnhöfen durch Raketen umgebracht werden, sieht Menschen in Mariupol, zusammengepfercht in einer Stahlfabrik, die nur noch auf das Ende warten. Es ist das Ende unserer europäischen Ordnung, wie wir sie kannten – eine Zeitenwende. Kriegsverbrechen, systematische Vergewaltigungen, Racheakte an der Zivilbevölkerung – diese Vorwürfe gegen Putin und seine Truppen stehen im Raum und müssen nun rasch und genau untersucht werden.

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Europa blickt auf zerstörte Wohnhäuser.
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All der Horror geschieht auf Befehl eines einzelnen "starken Mannes", der sich, befeuert von Speichelleckern, Jasagern und diabolischen Beratern, das Wiedererstehen eines russischen Großreiches zusammenfantasiert. Ein Einzelner, der nach langen Jahrzehnten an der Macht der russischen Bevölkerung nichts anderes geben kann als vergiftete Träume von nationalistischer Größe. Denn Russland ist eine Kleptokratie, nur einige wenige konnten, im Fahrwasser Putins, unvorstellbar reich werden.

"Das könnte bei uns nicht passieren" gilt nicht mehr

Auf all das müssen Europas Bürger genau schauen, auch wenn es wehtut. "Das könnte bei uns nicht passieren" gilt nicht mehr – obwohl Analogien immer schwierig sind, zumal mit Russland und seiner Jahrhunderte währenden Geschichte der Unterdrückung seiner Bevölkerung. Dennoch: Machen sich nicht auch in der EU kraftmeiernde Populisten breit, deren einziges Konzept nationaler Egoismus ist? Das müssen sich aktuell vor allem Französinnen und Franzosen fragen, denn sie haben eine schicksalhafte Wahl.

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Trotz sanfter Intonierung ist genau hinzuhöhren, was Marine Le Pen sagt.
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Es endet im Desaster, wenn politische Führer Verführer sind, wenn sie dem Volk einreden, etwas Besseres zu sein als andere. Es nimmt ein schlimmes Ende, wenn gewählte Populisten und Demagogen den Rechtsstaat unterjochen, Meinungsfreiheit und gesellschaftliche Vielfalt mit Füßen treten und Staatseigentum und Steuergeld nach Gutdünken an Gefolgsleute und Geldgeber verteilen.

Man muss nicht hyper-alert sein, um Parallelen zu den Ibiza-Fantasien eines Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus zu sehen. Man muss nur zum wieder mit großer Mehrheit gewählten Viktor Orbán nach Ungarn schauen. Und man muss genau hinhören, was Marine Le Pen sagt, auch wenn sie sanft intoniert. Die zivilisatorische Schutzschicht, die uns Menschen hindert, Andersdenkendende als Feinde zu bekämpfen, ist dünn, zerbrechlich und kostbar. Wer sie schützen will, muss genau überlegen, wen er oder sie wählt. Das gilt nicht nur für Frankreichs Bürgerinnen und Bürger. (Petra Stuiber, 23.4.2022)